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„Unter solchen Umständen ist es sehr schwer zu leben“

Nach den Hungerjahren an der Wolga
„Unter solchen Umständen ist es sehr schwer zu leben“ Die Schule von Frank hat die Zeiten überdauert

Johannes Wagner blickt zurück auf die Hungerjahre. Als er im Februar 1924 an seine Verwandten in den USA schreibt, scheint er wieder Fuß gefasst zu haben in Frank, jener Siedlung an der Bergseite der Wolga unmittelbar an dem Fluss Medveditza. Wagner war erst wenige Jahre zuvor in den 1767 gegründeten Ort gekommen - ein Rückkehrer aus Amerika.

Frank, 29. Februar – An Adolph Wagner in Culbertson, Nebraska –
Lieber Bruder Adolph samt allen unseren Anverwandten in Amerika! Deinen werten Brief haben wir richtig und mit Freude erhalten. Habe den innigsten Dank dafür.

Diesen Brief schreibe ich zwar an Dich, aber Du kannst ihn den anderen Geschwistern vorlesen, denn ich kann nicht an alle schreiben, weil es zu viel kostet. Geld kann man sich keins im Hause halten, weil es jeden Tag billiger wird. Wir haben Zeiten, wo kein Kopek im Hause ist. Frucht ist vorteilhafter, weil die Frucht mit dem Goldrubel steigt. Überhaupt ist hier eine Berechnung mit dem Geld, daß man nicht klug daraus wird.

Die Kleider sind so rar und die Preise so hoch, daß manche Leute fast nackt gehen. Meine Frau und Töchter spinnen schon vom frühen Herbst an Flachs zu Kleidern, Hosen, Binschack usw, denn „selbst gesponnen und gemacht, ist die beste Bauerntracht“. Kaufen kann man der hohen Preise halber nichts, dann hält es auch nur kurze Zeit. Unter solchen Umständen ist es sehr schwer zu leben.

Kommt man zu einem Handwerker wie Schneider, Schuster, Schmied oder Holzmann und hat etwas zu machen, so heißt es: Getreide will ich dafür haben. Ich selbst mußte 105 Pud Getreide als Steuer legen. Und so geht`s überall; da muß man immer Frucht geben, trotzdem die Ernte nicht sonderlich war. Aber zum Leben haben wir doch genug. Gott sei es gedankt; es ist ganz anders wie in den Hungerjahren. Im Herbst haben wir drei Schweine geschlachtet und auch einige Schafe, und wollen zu Ostern wieder ein Schwein schlachten, von denen wir über Winter 7 Stück hielten.

Du willst auch wissen, ob ich Bretter habe für der Mutter ihren Sarg. In diesen Sachen war ich sorgfältig, da hatte ich schon vor dem Kriege dafür gesorgt, denn man weiß nicht, was alles kommen kann. Im Herbst hatte ich auch dem Vater sein Haus umdecken lassen, wofür ich dem Decker auch 24 Pud Getreide geben mußte. So muß nun nach und nach manches repariert werden, weil in den armen Jahren alles unterblieb, daß alles zerlumpt und baufällig ist. Im Frühjahr gedenke ich an den Ställen anzufangen, sie zu reparieren.

Brief von Johann Peter Luft aus dem Gebiet Odessa (1924):

„Wenn ihr kommen wollt, dann kommt bald“
Eine Rückkehr mit ungewissem Ausgang

Russlanddeutsche in Nordamerika und die Hungerbriefe aus Russland:

Vor 90 Jahren: Hungerbriefe aus Russland
Russlanddeutsche in den USA kamen zu Hilfe

Der Vater wohnt in seinem Stübchen und hat nichts zu tun als zu essen und zu beten und zu ruhen. In der großen Stube wohnt die Florentina mit ihrem Mann und zwei Kindern, welch letztere jetzt krank sind am Scharlachfieber. Wir essen und trinken alle zusammen an einem Tisch in meinem Hause.

Gegenwärtig herrscht eine große Kälte, aber bis dieser Brief in Eure Hände gelangt, wird es doch wärmer sein. Roggen haben wir 4 Deßjatin gesät, Sommerfrucht werden wir 10 Deßjatin säen.

Anna Margreta Wagner, geborene Straßerlheim, ist am 13. Oktober 1923 gestorben im Alter von 74 Jahren und 6 Monaten. Ihr Leichentext war Römer 8, 18, über den Pastor Kluck predigte. Sie hinterläßt ihren Ehegatten, einen Sohn und auch eine Tochter in Rußland, und drei Söhne und eine Tochter in Amerika.

Nun muss ich mit herzlichen Grüßen an Euch samt allen Freunden und Bekannten zum Schlusse kommen.

Euer Bruder Johannes Wagner beim Rathaus.

Quelle: Die Welt-Post, Donnerstag, den 24. April 1924

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Erläuterungen

1 Dessjatin  =  1,1 Hektar

1 Pud  =  16,38 Kilogramm



Die Welt-Post

Die Welt-Post wurde von vielen russlanddeutschen Einwanderern in den USA und Kanada gelesen. Die deutschsprachige Wochenzeitung erschien vom 13. April 1916 bis 18. September 1970.

Ursprünglich wurde das Blatt in Lincoln, Nebraska gedruckt, seit 1919 zusätzlich in Omaha, Nebraska. Ab Juli 1958 erschien die Zeitung ausschließlich in Omaha. 1970 schloss sich "Die Welt-Post" mit anderen deutschsprachigen Zeitungen zusammen unter dem Namen „Die Welt-Post und der Staatsanzeiger“.

Ausgaben bis 1966 sind als Mikrofilm einsehbar im Bestand der Kongress-Bibliothek in Washington.

siehe auch
The Center for Volga German Studies