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Unbeschadet durch die Zeitenwende

„Roter Oktober“ – Siegeszug einer Schokoladenmarke
Unbeschadet durch die Zeitenwende Im "Zarenreich der Aromen": Arbeiterin bei "Roter Oktober"
Foto: Dana Ritzmann

Moskau (ORNIS) - Zwischen Moskau und Wladiwostok wird man nur wenige Menschen finden, die ihren Tee nicht reichlich süßen und denen der Sinn nicht hin und wieder nach Pralinen und Schokolade steht. Ausgerechnet ein Deutscher hat das süße Laster Mitte des 19. Jahrhunderts nach Russland gebracht. Bis auf den heutigen Tag hält Moskaus führender Schokoladenhersteller „Krasnyj Oktjabr“ (Roter Oktober) am Namen seines Gründers fest.

Der Zuckerbäcker Theodor Ferdinand von Einem war 24 Jahre, als er beschloss, seine württembergische Heimat zu verlassen und in Moskau sein Glück zu suchen. 1851 eröffnete er eine kleine Konditorei am Arbat und beschäftigte fünf Arbeiter. 1867 baute von Einem seine erste Schokoladenfabrik - am Sophienufer unmittelbar gegenüber dem Kreml - und stellte hundert Leute ein. Nach seinem Tod 1876 expandierte die Firma weiter.

Sein Nachfolger, der aus Walddorf im Schwarzwald stammende Julius Heuss, war erst wenige Jahre zuvor aus Odessa nach Moskau gekommen, wo er bald zum Chef von 500 Straßenbeleuchtern wurde. Heuss, Großvater des bekannten deutschen Politikwissenschaftlers und Osteuropa-Kenners Klaus Mehnert, führte Einems Unternehmen weiter und errichtete die größte und modernste Süßwarenfabrik der damaligen Zeit an der Südspitze der Jakimanka-Insel. Der mächtige Backsteinbau steht bis heute. Hier produzieren 2.500 Mitarbeiter rund 60.000 Tonnen Schokolade und Pralinen im Jahr.

Inzwischen ist der Betrieb hochmodern, hektische Betriebsamkeit erfüllt die Hallen. Dutzende weißbeschürzte Arbeiterinnen kontrollieren die Maschinen. Immer noch wird die legendäre Waffel „Mischka“ produziert, die schon vor hundert Jahren den russischen Naschkatzen gefiel. Dokumentiert wird die Geschichte der Firma in dem 1994 eingerichteten Fabrikmuseum.

Voller Stolz zeigt die Leiterin des Museums, Marina Schdanowitsch, ein altes Rezeptbuch von Einems, Plakate und Pappschachteln mit Motiven aus alter Zeit. „Diese Pralinenschachtel war damals so viel wert wie eine Kuh auf dem Markt“, erklärt die Museumsleiterin. Zur Jahrhundertwende konnten sich nur Reiche und Adlige die von Hand gefertigten Leckereien leisten.

Das Unternehmen „Staatliche Konditoreifabrik Nr. 1, vormals Einem“ galt schon lange vor dessen Verstaatlichung 1917 als Vorzeigefirma. Neben der Ausbildung bekamen die Lehrlinge Unterricht im Lesen und Schreiben, lernten ein Instrument zu spielen oder Chorgesang. Zugleich herrschte eine strenge Disziplin: Es war bei Strafe verboten, Süßigkeiten unerlaubt aus der Fabrik mit nach Hause zu nehmen.

Zumindest heute müssen die Besucher ihre Taschen gleich vor der Besichtigung des Werkes abgeben. Allerdings gibt es zum Tee nach Abschluss des Rundganges eine Tüte Pralinen und Schokolade zum Mitnehmen. Für besondere Anlässe kann man direkt in der Fabrik handgearbeitete Schokoladenfiguren bestellen.

Ein Denkmal der Industriekultur sind die aus Ziegeln errichteten Werksgebäude. Doch noch in diesem Jahr soll die Fabrik aus ihren alten Gemäuern am Ufer der Moskwa wegziehen, in den Norden der Stadt. Dort produziert „Babajewskij“ - einer von 13 weiteren russischen Süßwarenherstellern, mit denen „Krasnyj Oktjabr“ seit vier Jahren in einer Holding zusammenarbeitet.

Von dem historischen Firmensitz wird wohl nur das zentrale Gebäude mit dem alten Kontor, dem historischen Arbeitszimmer von Julius Heuss, dem Museum und einer Vorführanlage erhalten bleiben. Auf der Jakimanka-Insel sollen Luxuswohnungen, Einkaufszentren und großzügige Parks entstehen. Für eine Fabrik von sechs Hektar Fläche ist dort dann kein Platz mehr. (© ORNIS/Dana Ritzmann, 20. März 2006)


Informationen zum Museumsbesuch: Führungen auf Deutsch nach Vereinbarung mit Nina Sergejewna Semjonowa vom Moskauer Kulturkreis,  Tel.: +7 495 541 8080 - Adresse: Bersenewskaja Nabereschnaja 6, Metro: Kropotkinskaja

 
Links zum Thema
- Website "Roter Oktober" (russisch)
- Website "Roter Oktober" (englisch)

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