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Nikolaj Wormsbecher ist inzwischen eine lokale Berühmtheit. Wo er wohnt und wie er zu finden ist, weiß hier jeder; nicht nur in Wrewskoje sondern auch in den umliegenden Dörfern. Das am Dorfrand gelegene Bauernhaus kann man nicht verfehlen. Die Sorgfalt bis ins kleinste Detail fällt sofort ins Auge. Vor dem Haus gibt es einen Blumengarten. Die Rosensträucher sind akkurat gepflanzt und erfreuen die Hausbewohner mit frischem Grün und Blüten wie gemalt.
„Komm, lass uns Dame spielen!“, sagt ein etwa sechsjähriger Junge mit kurz geschorenem Haar im Gefolge des Großvaters. Das ist Sascha, Nikolaj Theodorowitschs ältester Enkel. Weder er noch sein kleiner Bruder waren jemals in der historischen Heimat. Sie wurden geboren, als die Wormsbechers schon wieder aus Deutschland zurückgekehrt waren.
„Warum ich zurück wollte?“, wiederholt Nikolaj Theodorowitsch nachdenklich die Frage. „Schwer zu sagen... Mich hat es einfach hierher gezogen. Hier ist meine Heimat.“
Geboren und aufgewachsen ist er in Kasachstan, in einer deutschen Familie, die während des Krieges aus dem Gebiet Stawropol deportiert worden war. Alle sechs Kinder wurden von klein auf in der Landwirtschaft angelernt. Der Vater war ein Arbeitstier, Müßiggang kannte er nicht. Erst 1964 konnten die Wormsbechers aus den kasachischen Steppen wieder in die Steppe bei Stawropol ziehen. Die harmonische Familie ließ sich zunächst im Vorwerk Petrowskij nieder.
Nach Beendigung der Schule fuhr Nikolaj zur Ausbildung in die Stadt. Nach der Armee heiratete er das Mädchen seiner Träume: Valentina, eine ehemalige Klassenkameradin. Kinder wurden geboren, ein Tochter und ein Sohn. Mit 34 Jahren zog Nikolaj mit seiner Familie nach Wrewskoje. Die Eheleute arbeiteten beide in der Kolchose, die Kinder gingen zur Schule. Mit den Eltern und den Geschwistern, die inzwischen auch Familien gegründet hatten, unterhielten sie sich oft und gern. Von einer Ausreise nach Deutschland war nie die Rede.
Als die Perestrojka über sie hereinbrach, änderte sich vieles. Und als sich dann Anfang der 1990er Jahre die Möglichkeit bot, für immer ihr russisches Dorf gegen Wohlstand in Deutschland einzutauschen, stand ihr Entschluss fest. Am längsten sträubt sich noch Nikolaj gegen den Umzug. Er liebte Wrewskoje, das gerade fertig gestellte Haus, seine Arbeit. Aber der immer bedrohlicher werdende Tschetschenien-Feldzug in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft und die Überredungskünste der Verwandten gaben schließlich den Ausschlag. Gleich vier Wormsbecher–Generationen, insgesamt 60 Personen, reisten nach Deutschland aus.
Ihr gesamtes Eigentum, außer dem Haus, wurde verkauft. Von den Nachbarn verabschiedeten sie sich in aller Eile, für langen Abschiedsschmerz blieb keine Zeit.
Schon einen Monat nach der Ankunft bekam Nikolaj Wormsbecher zum ersten Mal Heimweh. Das glänzende, gleichförmige Leben war nicht nach dem Geschmack des Aussiedlers. „Sicher, das Lebensniveau ist deutlich höher. Die Menschen sind freundlicher und herzlicher. Aber Probleme gibt es auch mehr als genug“, erzählt Nikolaj Theodorowitsch. „Erstens die Sprachbarriere. Wir haben uns ja bemüht, aber trotzdem: das Alter eben... Zweitens das negative Verhältnis der einheimischen Deutschen zu den Neuankömmlingen, obwohl es dafür auch Gründe gibt. Unsere Jugend benimmt sich in Deutschland zum Teil wie von der Leine losgelassen: trinkt, raucht, flucht, klaut. Kurz gesagt, sie benimmt sich unmöglich. Einheimische Deutsche haben mir oft erzählt, was sie von den Aussiedlern aus Russland halten, und mich gefragt: Woher kommt das nur? Nirgendwo und nie habe ich mich mehr als Russe gefühlt als in Deutschland.
Der härteste Schlag für Nikolaj Theodorowitsch war die erzwungene Arbeitslosigkeit. Er nahm jede Arbeit an, die sich ihm bot. Nicht, weil es vielleicht lebensnotwendig gewesen wäre. Andere Aussiedler leben jahrelang von Sozialhilfe und denken gar nicht daran, sich um Arbeit zu bemühen. Für ihn, einen 45-jährigen Mann, der sein Leben lang im Schweiße seines Angesichts geschuftet hatte, war ein untätiges Leben etwas, was über seine Kräfte ging.
Aber auch das war nicht der Hauptgrund für die Rückkehr der Wormsbechers. Nach etwa einem Jahr hatte Nikolaj Theodorowtisch nämlich sogar einen festen Arbeitsplatz. Der Chef schätzte ihn, das gute Gehalt kam regelmäßig. Der Wunsch zur Rückkehr aber wurde immer stärker. Der Chef war von seiner Kündigung sehr überrascht und bot ihm sogar eine Gehaltserhöhung an. Aber er lehnte ab: „Es geht nicht ums Geld. Ich will zurück nach Russland...“
„Wie schön es auch war. Ich habe immer gespürt: Hier gehör’ ich nicht her, das ist nicht meine Heimat“, gesteht Nikolaj Wormsbecher.
Er verabschiedete sich von der Tochter, dem Schwiegersohn und seinen zwei Enkeln, die in Deutschland bleiben wollten, und kehrte mit Frau und Sohn zurück nach Wrewskoje, in das Haus, das er mit seinen eigenen Händen erbaut hatte und das ihn völlig verwaist schon erwartete.
Er begann wieder in der Kolchose zu arbeiten. Aber in den letzten drei Jahren war der Landwirtschaftsbetrieb immer mehr in den Ruin abgerutscht, Gehälter wurden nicht mehr gezahlt. Schließlich hatte Nikolaj die Nase voll von wohltätiger Arbeit, forderte seinen Anteil von der Kolchose zurück und machte sich auf seinem eigenen Boden, zu dem noch der Anteil der in Deutschland gebliebenen Verwandtschaft kam, selbständig. Hier arbeitet er gemeinsam mit seinem Sohn, der inzwischen geheiratet hatte und Vater geworden war.
Der Tag auf dem Bauernhof beginnt morgens gegen fünf, sechs Uhr. Im Stall brüllen schon die Kälber und fordern ihr Futter. Alle werden nacheinander versorgt: die Ferkel, die Gänse, die Hühner. Alles, was hier ringsherum steht, hat er zusammen mit seinem Sohn aufgebaut.
Zwischendurch schimpft Wormsbecher, wie jeder Bauer in Russland, auf die Regierung. Weder vom Rayon noch von den Gebietsbehörden hat er irgendwelche Hilfe bekommen. Trotzdem bereut er es nicht, nach Russland zurückgekehrt zu sein. Wenn er von seiner Herkunft auch ein Deutscher ist, besitzt er doch eine russische Seele.
Quelle: Марина Тимченко: „Ставрополь. Прощай, Германия!“;
Marina Timcenko: „Stavropol’. Prosaj, Germanija!“;
http://www.rg.ru/2007/06/08/nemci.html
Stand: 8. September 2007; Übersetzung: Norbert Krallemann