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Frankfurt/Oder, im Juli 2011 - In seiner soeben fertiggestellten Masterarbeit an der Europauniversität Viadrina in Frankfurt/Oder ist der Kulturwissenschaftler Daniel Nicoletti der Frage nachgegangen, ob und wie sich junge Russen aus deutschstämmigen Familien selbst als Russlanddeutsche empfinden. Und welche Rolle spielt dabei die deutsche Sprache, die von einigen zwar immer noch als „Muttersprache“ bezeichnet, selten aber beherrscht wird?
„Was ist zwei Generationen nach der Deportation und anschließenden 50 Jahren Sowjetunion vom russlanddeutschen Leben geblieben, was hat sich entwickelt?“, will Nicoletti in seiner Arbeit mit dem Titel „Die erlernte Identität – Russlanddeutsche Jugendliche in Tomsk zwischen tradierter Geschichte und Selbstpositionierung“ erkunden. 45 russlanddeutsche Jugendliche im Alter von 15 bis 23 Jahren hat er danach befragt, was für sie Identität, Geschichte und Heimat bedeuten. Getroffen hat er die jungen Leute im Umkreis russlanddeutscher Einrichtungen wie das Russisch-Deutsche Haus in Tomsk, in der Organisation Jugendblick und im örtlichen Goethe-Zentrum.
Birkenhain mit Plattenbau
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Die Interviewten zählen in Tomsk, wie der Autor einräumt, zu den ganz wenigen jungen Russlanddeutschen, die sich überhaupt mit ihrer (Familien-)Geschichte befassen und „dies auch nach außen tragen“. Dass ihre Identitätsbildung als Russlanddeutsche auf teils tönernen Füßen steht, belegt Nicoletti nicht nur mit dem Mangel an Deutschkenntnissen der Beteiligten. Auch hätten zwar 36 Prozent angegeben, Musik oder Literatur speziell russlanddeutscher Künstler zu hören und zu lesen. Auf Nachfrage konnten sie allerdings „kaum einen Namen eines Künstlers nennen“.
Doch sie lernen deutsch, befassen sich mit dem Schicksal ihrer Vorfahren und interessieren sich für das heutige Deutschland. Darin unterscheiden sie sich allerdings von ihren Eltern und Großeltern, die teils noch russlanddeutsche Dialekte sprachen, traumatische Erfahrungen selbst durchlitten haben und ein Bild von Deutschland in sich tragen, das eher dem Land entspricht, das ihre Vorfahren einst verlassen hatten.
Winterpause
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„Die traditionelle russlanddeutsche Identität gerät heute mehr und mehr ins Hintertreffen“, schreibt Nicoletti. Im Vordergrund stünden vielmehr der Wunsch und das Bedürfnis, sich zu einer Minderheit zu bekennen. Für dieses Selbstverständnis werde auf „klassische, klischeebehaftete Stereotypen des Deutschen“ zurückgegriffen, die man schließlich für sich selbst behaupte.
„Bei uns in der Familie“, zitiert Nicoletti den Russlanddeutschen Andrej, „machen alle alles immer fristgerecht, gründlich und ehrlich (…). Es gibt immer einen Plan (…) und klar, verschiedene Varianten werden durchgespielt. Und wenn es doch ein Problem gibt, schauen wir, wie wir es lösen können und handeln dementsprechend klug und praktisch. Bei den Deutschen ist das so, die Pünktlichkeit, diese Akribie, das gibt`s oft.“
Konzert im Tomsker Konez Frunse
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Nicolettis Arbeit verdeutlicht: Es gibt eine russlanddeutsche Geschichte, an die - wenn auch nur wenige - junge, deutschstämmige Russen heute anknüpfen wollen. Eine russlanddeutsche Identität müssen sie sich allerdings erst aneignen. Sie sehen sich als Teil einer Minderheit, zudem ohne eigenes Territorium, die sie nicht genau kennen und deren Sprache sie kaum sprechen. Was unter diesen Umständen in ein oder zwei Generationen noch als russlanddeutsch bezeichnet werden wird, muss offen bleiben. (Barbara Geier; Fotos: Daniel Nicoletti)
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Daniel Nicoletti, 1980 in Hilden bei Düsseldorf geboren, studierte zunächst an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Kulturwissenschaften und Medien, und schloss an der Europauniversität Viadrina Frankfurt/Oder im Fach Kultur und Geschichte Mittel- und Osteuropas mit dem Mastertitel ab. Nicolleti lebt in Berlin. 2009/2010 war Nicoletti als Deutschlehrer beim Goethe-Zentrum in Tomsk tätig. Hier hatte er häufig Kontakt zu russlanddeutschen Jugendlichen. So entstand die Anregung zu seiner Arbeit „Die erlernte Identität – Russlanddeutsche Jugendliche in Tomsk zwischen tradierter Geschichte und Selbstpositionierung“. Er wollte der Frage nachgehen, was heute das Russlanddeutsche in Russland noch ausmache. Schließlich hat er sich dazu entschlossen, das Thema mit anderen Mitteln zu vertiefen und hat begleitend zu seiner Arbeit ein Video vorgelegt, in dem junge Russlanddeutsche und Leiter russlanddeutscher Organisationen in Tomsk zu Wort kommen. |
"Die erlernte Identität" Russlanddeutsche Jugendliche in Tomsk zwischen tradierter Geschichte und Selbstpositionierung |
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Kommentator, 21.07.2011 16:38:00:
"Für dieses Selbstverständnis werde auf „klassische, klischeebehaftete Stereotypen des Deutschen“ zurückgegriffen...". Na ja, was heisst hier Klischee? Das sagt Michael Klein (wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie der Universität Hohenheim): "Die Deutschen benennen Pflichtbewusstsein und Disziplin, Ordnungsliebe und Fleiß in Bevölkerungsumfragen nach wie vor als die wichtigsten typisch deutschen Eigenschaften." "Hart aber fair - Faktencheck" www.wdr.de/themen/politik/1/hart_aber_fair/faktencheck_110720/index.jhtml
Marianna, 17.07.2011 13:41:49:
Was sich ändern müsste ist dass die Russladdeutschen im kulturellen Bereich (z.B. Geschichte,Gegenwart,Dialekte ähnlich des Luxemburgerischen u. teilw. Holländischen,Kochkultur,Kunst,Musik,Baudenkmäler) mehr Unterstützung erfahren,wie das in modernen Staaten im Umgang mit Minderheiten üblich ist. Russland unterstützt doch ebenso russische Minderheiten im Baltikum, der Ukraine und Kasachstan.
Mandy, 16.07.2011 19:10:03:
Ein Satz der mir aufstiess ist "Was unter diesen Umständen in ein oder zwei Generationen noch als russlanddeutsch bezeichnet werden wird,MUSS offen bleiben. "Das Wort "muss" ist in der heutigen Sprache kaum noch zu finden,ausser wenn jmd. keine anderen Optionen zulassen moechte.Es wird immer Russlanddeutsche oder Menschen russlanddeutscher Herkunft geben, auch wenn das einigen (warum?) nicht passt.
Martin, 16.07.2011 18:59:45:
Da fällt mir ein,dass zu russlanddeutscher Sprachkultur neulich ein interessantes Buch namens "Russlanddeutsches Dialektbuch" von Nina Berend erschien.Eigentlich müsste es für diese Kulturvariante ebenso staatliche Unterstützung geben,so dass Menschen neben Hochdeutsch und russisch auch etwas über diese netten Mundarten wissen.Diese Art von Mischkultur-Mundarten sind auf der ganzen Welt zu finden.
Beobachter, 16.07.2011 17:21:24:
...Beachten Sie bitte, dass im Film immer wieder tendentiöse und zum Teil sogar falsche Übersetzungen festzustellen sind: Bundesdeutsche politisch Korrekte Sprachregelung lassen grüßen...
Martin, 16.07.2011 13:52:39:
Ich stimme Mandy u.Lhinda zu,denke dass es in Teilen der bundesdeutschen Medien und Wissensachft deutliche Doppelstandards gibt.Die Gesellschaft wird davon natürlich beeinflußt.Ein Umdenken in Bezug auf Russladdeutsche wäre hier notwendig,um sich den Menschen fair anzunähern.Auf internationaler Ebene gebührt jeder Minderheit ein Grad an Empathie/Respekt/Unterstützung,und oftmals klappt das auch!
Lhinda, 15.07.2011 22:51:37:
Minderheiten(z.B.indigene Minderheiten in Amerika bis heute)sterben meist nur dann aus,wenn die Gesellschaft den Wert der Vielfalt nicht erkennt.Und zur Vielfalt gehoeren eben auch Deutsche.Bei Russlanddeu. ist es aber auch v.a. eine Bundesdeutsche Problematik.Weder Polen,Griechenld.,Italien würden ihre Minderheiten im Ausland "totschreiben", sondern ihre Kultur unterstützen & weniger herzlos sein
Mandy Szneyder, 15.07.2011 21:19:50:
Immer wieder gehen die Artikel in dieselbe Richtung.Ja,gibt es denn dann in Russland und der ehemaligen SU ueberhaupt Minderheiten?Allen wird dies zugestandten,ausser den Ruslddt.? Natuerlich gibt es Russlanddeutsche, seien es nun aeltere oder juengere Menschen.Es muss endlich der (auch mediale)Umgang mit Russlanddeut. und deren Abqualifizierung wissenschaftlich untersucht und blossgestellt werden
Klemens Veit, 14.07.2011 18:37:51:
Zur ethnischen Zuordnung der Rußlanddeutschen: sie sind keine Russen, keine deutschstämmigen Russen, keine Deutschrussen und keine "Weißrussen", sondern klipp und klar Deutsche aus Rußland. Sprachliche u.a. kulturelle deutsche Defizite sind das Ergebnis einer Zwangsrussifizierung und daher als Kriegsfolgeschicksal zu sehen. Dies gebietet der Respekt vor der Identität dieser Menschen.