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Augsburg – Für Mediziner sind Aussiedler ein Rätsel – zumindest, wenn es um Herz-Kreislauf-Fragen geht. In Russland, dem Herkunftsgebiet vieler deutschstämmiger Zuwanderer, liegt die Zahl der Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Vergleich zu Westeuropa dramatisch hoch. In Deutschland dagegen sinkt die Todesrate seit rund 30 Jahren kontinuierlich.
Seit Aussiedler in großer Zahl nach Deutschland kamen, stellten sich Ärzte deshalb auf eine hohe Sterberate durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen in dieser Bevölkerungsgruppe ein. Doch die Sorge war verfehlt. Erste Untersuchungen in Nordrhein-Westfalen und im Saarland brachten vielmehr ans Tageslicht, dass Aussiedler noch weit seltener an Herz-Kreislauf-Beschwerden leiden als die einheimische Bevölkerung selbst. Damit war die medizinische Wissenschaft vor eine Frage gestellt, die bis heute ungeklärt ist.
Herz-Kreislauf-Sterblichkeit in Europa – Stand: 2008
hell: 150 Tote pro 100.000 Personen, dunkel: 1.000 Tote/100.000 |
Erste Vermutungen liegen vornehmlich im Außermedizinischen: Ist es der häufig bewahrte Familienzusammenhalt, der Aussiedler entspannter leben lässt? Trägt die kulturelle Identität dazu bei, dass Russlanddeutsche mehr in sich ruhen? Liegt es an der vergleichsweise höheren Lebenszufriedenheit, die die Zuwanderer trotz mancher Erschwernisse im bundesdeutschen Alltag auszeichnet? Mit derartigen Erkenntnissen, ob zutreffend oder nicht, könnten Sozialwissenschaftler leben. Mediziner nicht.
Heiko Becher, Professor am Universitätsklinikum Heidelberg, hat 2006 die Daten von über 34.000 Aussiedlern ausgewertet, die zwischen 1990 und 2001 nach Deutschland eingewandert waren. Persönliche Befragungen waren nicht vorgenommen worden, der Studie lagen lediglich die Angaben von Melde- und Gesundheitsämtern in Nordrhein-Westfalen zugrunde.
Jetzt planen die Wissenschaftler den nächsten Schritt. In Augsburg gibt es das KORA-Studienzentrum, das in den vergangenen Jahren großangelegte Bevölkerungsstudien in Gesundheitsfragen durchgeführt hat. Gemeinsam mit KORA wird die Universität Heidelberg in den kommenden Monaten in Augsburg und Umgebung Aussiedler ansprechen und um Mithilfe bitten. Bei den geplanten Befragungen geht es darum herauszufinden, welche Faktoren im Alltag von Aussiedlern womöglich ausschlaggebend sind, dass sie seltener von Herz-Kreislauf-Erkrankungen betroffen sind.
Dabei spielen nicht nur Lebensstil und empfundene Lebensqualität eine Rolle. Auch Auskünfte über Ernährungsgewohnheiten und Gesundheitsverhalten ergeben ein so genanntes Risikoprofil. Im Vergleich zu den Risikoprofilen der übrigen Bevölkerung müssten also Unterschiede deutlich werden. Und daraus, so hofft die Forschergruppe, müsste man Schlussfolgerungen ziehen können, die später bei Empfehlungen zur Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkranken eine wichtige Rolle spielen können.
Teilnehmer einer KORA-Informationsveranstaltung
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Bei dem Projekt in Augsburg kommt es nun darauf an, genügend Teilnehmer für die Studie zu finden. Knapp 5.000 Aussiedler leben derzeit in der Region, die die Teilnahmebedingungen erfüllen: zwischen 1990 und 2000 nach Deutschland gekommen und damals mindestens 15 Jahre alt gewesen zu sein. Je größer die Zahl der Teilnehmer, desto besser, denn nur dann lassen sich die gefundenen Erkenntnisse auch verallgemeinern.
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