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Mildernde Umstände? - Jugendliche Aussiedler und Drogen

Serie Teil 4

Berlin (ORNIS) - Mit einer vierteiligen Serie gibt ORNIS einen Einblick in den Alltag von Aussiedlern, die aus Russland oder Kasachstan nach Deutschland kommen. Der vierte Teil berichtet davon, dass für viele jugendliche Aussiedler in Deutschland Drogen zum Verhängnis werden. Fachleute sprechen von einer „sozialen Zeitbombe“.


Fragt man Andreij, woher er stamme, sagt er immer: Nowosibirsk. Die Stadt in Westsibirien hat es ihm angetan. Die russische Millionenmetropole ist etwas anderes als die eher langweilige Kleinstadt im deutschen Baden-Württemberg. Wenn Andreij ´Nowosibirsk` sagt, dann huscht ein Anflug von Stolz über sein Gesicht. Die Legende von seiner Herkunft hat sich der 19-Jährige zugelegt, seit er mit seinen Eltern nach „Klein-Kasachstan“ gezogen ist. So nennen die einheimischen Deutschen das Viertel jener Kleinstadt, wo vor allem Aussiedler leben. Andreij hatte bald gemerkt, dass die Bezeichnung nicht nur freundlich gemeint war. Da war ihm klar, dass es Besseres im Leben geben muss, als aus Kasachstan zu stammen.

Als der Richter Andreij für drei Jahre ins Gefängnis schickte, hatte er in seiner Urteilsbegründung von der „oftmals fatalen Situation junger Aussiedler“ in der Kleinstadt gesprochen. Zwei Tankstellen hatte Andreij mit einem Komplizen überfallen und einen Taxifahrer, der sich zur Wehr setzte und von einem der beiden Täter verletzt wurde. Das Motiv war jedes Mal dasselbe: Geld – Geld für Drogen, denn Andreij und sein Freund waren abhängig von Drogen. In der Sprache der Justiz heißt das Beschaffungskriminalität. Manchmal können die Täter vor Gericht mit mildernden Umständen rechnen, weil sie das Verbrechen wohl nicht begangen hätten, wenn sie nicht selber auch Opfer wären – Gefangene ihrer Krankheit, die Drogenabhängigkeit heißt. Andreij hat keine mildernden Umstände erhalten.

Derzeit sitzt er im Gefängnis von Adelsheim nahe Heilbronn ein, einer der größten Jugendstrafanstalten des Landes. Viele seiner Mitgefangenen sprechen Russisch, denn 14 Prozent der Insassen sind junge Aussiedler. Vor zehn Jahren gab es nur eine Handvoll „Russkis“ in Adelsheim – so nennen die anderen Gefangenen die für ihren Zusammenhalt berüchtigten Jugendlichen aus Russland und Kasachstan. Wegen Raub, Erpressung und Gewaltdelikten haben sie vor Gericht gestanden – und wegen Drogenvergehens. In der Region der baden-württembergischen Kleinstadt hat die Zahl der Drogenverbrechen jugendlicher Aussiedler von einem Jahr aufs andere um über 50 Prozent zugenommen. An anderen Brennpunkten ist es ähnlich.

Ein Verantwortlicher der Kommune sagte einmal: „Hier tickt eine soziale Zeitbombe!“ Damit meinte er auch die bedrängte Lage junger Leute, die häufig ohne eine Perspektive nach Deutschland gekommen sind und hier keinen Mut zu einem Neubeginn geschöpft haben. Im Gegenteil: Manche Jugendlichen gerieten erst in Deutschland in eine tiefe Krise – ein anderes Land, eine andere Sprache und Menschen, die ihnen vielfach mit einer Mischung aus Fürsorge und Ablehnung begegnen. Viele Jugendliche reagieren darauf, indem sie trotzig alles Neue ablehnen und - in der trügerischen Hoffnung, sich nicht zu verlieren - alles Alte bewahren: die Sprache, Verhaltensweisen, die zuweilen in Deutschland auf Missfallen stoßen, Freunde aus der alten Heimat, die nicht so herausfordernd sind wie die neue Umgebung.

Der Zwiespalt: Fast niemand möchte zurückkehren nach Russland oder Kasachstan und das frühere Leben fortsetzen – aber die Fremdheit dieses Landes Deutschland, das die Großeltern zuweilen als „Urheimat“ bezeichnet haben, macht es auch nicht leicht, an dem Leben dort teilzunehmen. Ausgerechnet in einem Alter verlassen viele junge Leute gemeinsam mit den Eltern ihre alte Heimat, in dem sie gerade beginnen, eine eigene Persönlichkeit zu bilden. Sozialwissenschaftler sprechen von „doppelt teilsozialisiert“: Die Eingliederung in die frühere Heimatgesellschaft ist unterbrochen worden, als sie gerade dabei waren, ihren Platz zu suchen. Die neue Gesellschaft kann noch keinen Halt bieten. Ihr Lebensweg hat eine tiefe Störung erfahren.

Und die Quellen für Konflikte werden auch nicht gerade weniger. Man hat festgestellt, dass in gemischtnationalen Aussiedler-Familien häufiger Schwierigkeiten auftreten als in anderen, weil die Erwartungen der Partner womöglich weiter auseinander liegen als ursprünglich geglaubt. Das überkommene Familiengefüge erhält Brüche, weil durch die Ausreise nach Deutschland ein anderer Partner eine stärkere Position erhält als früher der Fall war. Der russlanddeutsche Elternteil empfindet der neuen Gesellschaft gegenüber womöglich eine stärkere Verpflichtung als der Elternteil anderer Nationalität. Für die Kinder bedeutet das eine starke Irritation, weil sie um den Bestand der Familie fürchten – häufig die einzige Sicherheit, die sie aus der alten Heimat herübergerettet haben.

In Deutschland ist es leicht, an Drogen zu gelangen – auch wenn es illegal ist, Drogen in größeren Mengen zu besitzen oder damit zu handeln. Zahlreiche Stoffe sind auf dem Markt, darunter einige, die als Einstiegsdrogen bezeichnet werden. Sie machen nicht krank, bereiten jedoch den Boden, stärkere Mittel zu versuchen und schließlich der Droge zu verfallen. In vielen Fällen abhängiger jugendlicher Aussiedler wurde festgestellt, dass sie bereits in der früheren Heimat mit Drogen in Kontakt gekommen waren. Kriminelle Händler sprechen häufig Minderjährige an, Abnehmer zu finden und den Stoff an Gleichaltrige und andere zu verkaufen. Sie selbst bleiben im Hintergrund. Jugendliche, die noch nicht 18 Jahre alt und volljährig sind, können vor Gericht mit milderen Strafen rechnen.

Wissenschaftler haben sich mit dem Problem drogengefährdeter Jugendlicher unter den Aussiedlern beschäftigt. Dabei hat sich herausgestellt, dass das Risiko besonders für jene hoch ist, die keine Motivation haben, ihr Leben zu gestalten und die Angebote der neuen Gesellschaft zu erkennen und wahrzunehmen. Bei Drogen verhält es sich ähnlich wie mit psychischen Erkrankungen, an denen Einwanderer aus Russland oder Kasachstan zuweilen leiden: je besser die Kenntnisse der deutschen Sprache, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, den neuen Alltag zu meistern und Perspektiven zu entwickeln. Studien legen die Vermutung nahe, dass gute Deutschkenntnisse sich auf den Gesundheitszustand stabilisierend auswirken. Junge Leute, die der Droge verfallen sind, sprechen häufig nicht Deutsch.

Natürlich ist das Problem vielschichtiger und nicht allein auf die Sprachfertigkeit zu beschränken. Behörden und Verantwortliche in der Jugendarbeit haben darauf reagiert und in jüngster Zeit jungen Aussiedlern verstärkt Angebote gemacht - nicht nur auf dem Gebiet der Sprachförderung.

 
Links zum Thema
Drogenbericht der Bundesregierung 2003
Film: Probleme junger Aussiedler im Bundesland Nordrhein-Westfalen (4 Min.)

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