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Das Ende der Wolgarepublik

Letzter Sprecher des Wolgadeutschen Rundfunks erinnert sich
Das Ende der Wolgarepublik Jacob Schmal, mit 16 Jahren jüngster Sprecher des Wolgadeutschen Rundfunks
Foto: privat

Berlin (ORNIS) - In einem seiner letzten Interviews erinnert sich Jacob Schmal an seine Zeit als Sprecher des Wolgadeutschen Rundfunks vor über sechzig Jahren. Was geschah in den letzten Augusttagen des Jahres 1941, als der Oberste Sowjet die Deportation der Deutschen aus der Wolgarepublik nach Sibirien verfügte. Der Zeitzeuge Jacob Schmal starb am 12. Oktober 2002. Er war der jüngste und zugleich letzte Sprecher des Wolgadeutschen Rundfunks in der Stadt Engels.

17 Jahre alt war Jacob Schmal, als er die Wolgarepublik für immer verlassen musste. Der damals jüngste und zugleich letzte Sprecher des Wolgadeutschen Rundfunks der gleichnamigen Autonomen Republik hatte am 22. Juni 1941 wohl als Erster in der Wolgarepublik aus Berlin die Nachricht empfangen, dass Truppen der deutschen Wehrmacht die Sowjetunion überfallen hatten.

Rund zwei Monate später gehörte er zu den ersten Wolgadeutschen, die im Pferch eines Eisenbahnwaggons aus Engels nach Sibirien deportiert wurden. Er überlebte Zwangsarbeit und Lagerhaft und arbeitete später als Ingenieur in der baschkirischen Erdölindustrie in Ufa. 1997 siedelte Jacob Schmal mit seiner Frau nach Deutschland aus. Seither lebte er in Berlin.

1995 erschienen im Moskauer Internationalen Verband der deutschen Kultur (IDVK) seine Lebenserinnerungen „Den Kelch bis zur Neige geleert“. Aus Anlass des 60. Jahrestages des Stalin-Erlasses zur Deportation der Wolgadeutschen erinnerte sich der Zeitzeuge in einem Gespräch mit der ORNIS-Redaktion an die dramatischen Ereignisse:

Frage: Wie haben Sie persönlich den 28. August 1941 erlebt?

Jacob Schmal: Für die Bewohner der damaligen Wolgarepublik war der 28. August ein Tag wie jeder andere. Der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets erschien ja erst zwei Tage später in der deutschsprachigen Republikzeitung „Nachrichten“ und der russischen „Bolchewik“. Und doch hatten viele von uns ein ungutes Gefühl. Immerhin hatte zwei Monate zuvor Deutschland die Sowjetunion überfallen - und wir waren Deutsche in der Sowjetunion. Ein Dilemma, über das niemand zu sprechen wagte.

Frage: Waren man in der Wolgarepublik überhaupt über den Kriegsverlauf informiert?

Antwort: In der Redaktion des Wolgadeutschen Rundfunks erhielten wir täglich die Mitteilungen des Sowinform-Büros in Moskau. Wir wussten also: Die Hitlerdeutschen marschierten überraschend schnell vor. Und in der Wolgarepublik ging das Wort um: Wir tragen das Totenhemd. Das heißt: Noch weiß niemand, was geschehen wird, aber Schreckliches zeichnet sich ab. Jeden Tag aufs Neue war es für uns schmerzlich zu sehen, wie schnell Hitler auf unser Territorium vordrang. In den letzten Augusttagen - wenige Tage vor unserer Deportation - standen sie ja bereits vor Moskau.

Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir in der Wolgarepublik über den Vormarsch der Deutschen miteinander sprachen. Das war kein Thema in der Redaktion, und in der Bevölkerung auch nicht. Die Wolgadeutschen galten als sehr verschlossen, auf sich bezogen und kümmerten sich wenig um andere Dinge als ihre Landwirtschaft und ihr eigenes Sozialwesen. Dass es angeblich Spione für Hitler gegeben haben soll, war für sie völlig unverständlich und absurd. Als der Erlass am 30. August veröffentlicht wurde, verbreitete sich die Information wie ein Lauffeuer. Nach wenigen Stunden wussten alle davon. Auch unsere Nachbarn, mit denen wir in der Wolgarepublik lebten - Russen und Angehörige anderer Nationen - waren völlig konsterniert.

An diesem Tag gab es für alle kein anderes Thema. Alle waren überaus bekümmert. Doch es gab kein Aufbegehren, keine Demonstrationen gegen die Sowjetmacht, auch bei uns im Wolgadeutschen Rundfunk geschah nichts.

Frage: Es gab nicht den geringsten Ansatz von Widerstand?

Antwort: Ich glaube, in allen Familien war das Thema tabu. Es stand ja nicht im Erlass, wohin wir übersiedelt werden sollten. Lediglich war die Rede davon, dass die Wolgadeutschen in so genannte landreiche Gebiete geschickt werden sollten - in den Ural, nach Sibirien - und dort Land erhalten sollten, damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten könnten. Im Übrigen war völlig ausgeschlossen, dass sich jemand der Deportation widersetzte. Die Hauptstadt Engels und die meisten Dörfer der Republik waren von NKWD-Leuten besetzt.

Frage: Wie war damals Zeit das Verhältnis zwischen deutschen und anderen Einwohnern der Wolgarepublik?

Antwort: Es war ein durch und durch friedliches Zusammenleben. Unsere Nachbarn in der Wolgarepublik waren zumeist Russen, aber es gab auch Angehörige kleinerer Nationen. Sie fragten sich wie wir, was jetzt wohl werden würde. Als die Deportation begann - in der Nacht zum 3. September verließen die ersten 50 Waggons mit je 50 eingepferchten Menschen die Stadt Engels - standen unsere Freunde und Nachbarn, Russen und andere, dabei, winkten uns verzweifelt zu - und weinten.

Frage: Fühlten Sie, wie Ihnen von Stalin ja vorgeworfen wurde, irgendwelche Sympathien mit der vorrückenden deutschen Wehrmacht?

Antwort: Meine Altersgenossen und ich waren allesamt im Sinne der Partei als Komsomolzen erzogen worden, und wir hatten nur eins im Sinn: diesen verdammten Krieg zu beenden. Die wehrpflichtigen jungen Wolgadeutschen meldeten sich deshalb fast ausnahmslos an die Front - nicht weil sie dem sowjetischen Staat so ergeben waren, nein, wir wollten gegen Hitlerdeutschland marschieren, denn der Vormarsch der deutschen Truppen machte uns allen Angst.

Uns fiel auf, dass in der sowjetischen Presse mit keinem Wort erwähnt wurde, dass auch wolgadeutsche Soldaten an der Front kämpften. Mit einer einzigen Ausnahme: Am 24. August erschien die Jugendzeitung „Komsomolskaja Prawda“ mit einem ganzseitigen Beitrag über den wolgadeutschen Soldaten Heinrich Hoffmann, der sich den deutschen Truppen widersetzt hatte und von ihnen getötet wurde.

Wir waren zunächst sehr erleichtert und glaubten an einen Sinneswandel bei Armee und Regierung. Doch das war ein Fehler. Die wolgadeutschen Soldaten wurden nach und nach aus der Armee entfernt, viele ebenfalls nach Sibirien deportiert, andere endeten in Baubrigaden und mussten dort Schwerstarbeit verrichten.

Frage: Auch in Sibirien angekommen hegten Sie noch Hoffnung auf einen erträglichen Ausgang der Vertreibungsaktion?

Antwort: Von den Lagern, in die wir dann interniert wurden, hatte niemand auch nur eine Vorahnung. Wir wussten ja, dass Sibirien groß ist und dass dort Tausende und Abertausende Leute ihr Brot verdienen könnten. Wir rechneten damit, dass man für uns dort eine Bleibe bereit halten würde und wir dann mit Gottes Hilfe neu anfangen könnten - mit dem Bau neuer Siedlungen und mit der Anlage neuer Felder.

Frage: Was waren die wirklichen Gründe Stalins zur Deportation der Deutschen?

Antwort: Ich habe dafür keine Belege, aber ich glaube, dass Stalin und seine Berater schon längere Zeit die Wolgadeutschen im Visier hatten. Über zwanzig Jahre zuvor - 1918 - hatte Lenin einen Erlass zur Gründung eines Deutschen Autonomen Gebietes an der Wolga unterzeichnet - des ersten autonomen Gebietes für eine der vielen Nationalitäten der Sowjetunion überhaupt. Später las ich, dass zwei Gründe dafür ausschlaggebend gewesen seien. Zum einen wollte man den Deutschen dort eine selbständige Existenz geben.

In erster Linie aber erwartete man politische Unterstützung von den Deutschen an der Wolga. Die Sowjetunion hatte zu jener Zeit noch im Sinn, die Revolution nach Deutschland zu tragen, um einen sozialistischen deutschen Staat zu schaffen. In diesem Zusammenhang hatte angeblich die Sowjetregierung all ihre Pläne auf die Wolgadeutschen konzentriert. (© ORNIS 2002)

 
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