In wessen Händen liegt unsere Zukunft?
Fragen und Zweifel eines Russlanddeutschen
Alexander Nachtigall (links) und Edwin Grieb beim Forum der Begegnungsstätten Foto: ORNIS
„Rund um die Lösung der Frage nach der nationalen Wiedergeburt der Russlanddeutschen ist ein ganzes Geflecht unterschiedlicher Interessen entstanden, in dem man sich erst einmal zurechtfinden muss.“ Alexander Nachtigall ist Journalist, Regisseur, Chefredakteur der russlanddeutschen Zeitung „Uralskije nemzy“ und Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft „Deutsches Kulturzentrum“ in Tscheljabinsk, das seit 2001 Mitglied des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur ist. Nach dem jüngsten Forum der russlanddeutschen Begegnungszentren in Moskau fragt er sich, ob die Identität der deutschen Minderheit auch weiterhin im Mittelpunkt aller Bemühungen steht.
Von Alexander Nachtigall
Tscheljabinsk, im Januar 2008 – Das 7. Forum der russlanddeutschen Begegnungszentren ist Geschichte. Bemerkenswert, dass es dieses Forum, auf dem sich Vertreter russlanddeutscher Organisationen treffen und miteinander reden können, jedes Jahr gibt. Hier kann man gemeinsame Probleme diskutieren, Eindrücke austauschen und neue Energie für die Arbeit zu Hause tanken. Allein das macht diese Treffen zu einer wichtigen Veranstaltung, die es wert ist, alljährlich wiederholt zu werden. Trotzdem beschleicht mich, kaum dass ich nach Hause zurückgekehrt bin, immer wieder das beklemmende Gefühl, dass wieder etwas Wichtiges nicht getan wurde und die wichtigsten Fragen unausgesprochen blieben.
Diese Zweifel rühren daher, dass bestimmte Gedanken unausgesprochen blieben, vielleicht, weil man bestimmte Probleme nicht unnötig zuspitzen will. Diese Zweifel entspringen aber auch dem Gefühl, dass deine Gedanken niemanden wirklich interessieren, weil alles schon entschieden ist. Ich denke dabei an unser eigentliches Hauptproblem, unserem Volk die nationale Identität zu erhalten. Obwohl die Verlängerung des Föderalen Programms dafür spricht, dass man etwas erreichen kann, wovon vor wenigen Jahren noch niemand gewagt hat zu träumen. Wir bewegen uns, aber niemand weiß, wohin und mit welchem Ziel. Es gibt viele offene Fragen. Und wenn ich auch keine Antworten finde, will ich zumindest die Fragen benennen.
Die Begegnungszentren der Russlanddeutschen. Was verbirgt sich dahinter? Zahlreiche Organisationen und zwei Staaten, Russland und Deutschland, stehen für die Absicht, das Problem der Russlanddeutschen zu lösen. Eine gewaltige Kraft. Aber noch ist es zu früh, um zu konstatieren, dass die gestellten Ziele erreicht sind. Wo stehen wir heute?
Die meisten russlanddeutschen Institutionen, die in den vergangenen 15 bis 20 Jahren entstanden sind, werden als Begegnungszentren der Russlanddeutschen bezeichnet. Ein sehr neutraler Begriff. Derzeit wird mit den Partnern aus Deutschland über eine so genannte Basisförderung dieser Zentren verhandelt. Viele Organisationen haben Bedarf angemeldet: für die Bezahlung eines Buchhalters, für einen Computer, für ein Kopiergerät, für die Bezahlung der kommunalen Abgaben. Manche brauchen auch das alles zusammen. Wenn ein Wunder geschieht, bekommen sie es auch, aber das bezweifle ich.
Es gibt zwischen ihnen sehr große Unterschiede. Das betrifft die juristische Lage, die organisatorischen Möglichkeiten und die materielle Basis. Das Spektrum reicht von den russisch-deutschen Häusern bis hin zur Initiativgruppe in einem kleinen Dorf. Sie haben nicht nur eine völlig unterschiedliche Ausgangslage, auch ihre Fähigkeiten zum Überleben unter den heutigen Bedingungen unterscheiden sich so deutlich voneinander wie ein Fahrrad von einem Mercedes.
Die russisch-deutschen Häuser werden aus Haushaltsmitteln finanziert, es gibt festangestellte Mitarbeiter und eigene Räume. Damit können sie auch kostenpflichtige Dienste anbieten. Aber von diesen Häusern gibt es nicht allzu viele, es sind genau genommen unsere Flagschiffe. Allein hier kann man von einer Entwicklung und vom Erhalt der russlanddeutschen Kultur sprechen.
Bei der großen Masse jedoch handelt es sich um Institutionen ohne feste Mitarbeiter, ohne eigene Räume und mit sehr bescheidenen Mitteln. Aber dafür sind hier Enthusiasten am Werk. Dazu gehören sowohl Gebietsorganisationen als auch die vielen kleinen Organisationen in den Städten und Dörfern. Sie werden heute zwar auch unterstützt, aber das reicht nicht aus, um in diesem Zusammenhang von einer Wiedergeburt der russlanddeutschen Kultur sprechen zu können.
Eine Sonderstellung nehmen die beiden größten Organisationen ein: der Internationale Verband der deutschen Kultur (IVdK) und die Föderale Kulturautonomie der Russlanddeutschen (FNKA). Diese beiden Organisationen versuchen nicht nur, mit den Regionen zusammenzuarbeiten, sondern sind zugleich auch die größten Zuwendungsempfänger für Mittel aus Deutschland und Russland.
Leider ist es bist heute nicht gelungen, Strukturen zu schaffen, die die Verantwortung für das Schicksal unseres Volkes übernehmen. Die bestehenden Organisationen vertreten bei Weitem nicht das ganze Volk, sondern nur dessen aktiven Teil. Die Vertreter der heutigen Generation fühlen sich tief im Herzen gar nicht mehr als Deutsche. Um bei der Großmutter dieses Gefühl zu wecken, genügt es, eine Platte mit deutschen Liedern aufzulegen. Um die junge Generation an ihre nationalen Wurzeln zu erinnern, bedarf es gewaltiger Anstrengungen und gewaltiger Mittel. Um diese Frage in den Griff zu bekommen, müssen wir unsere Arbeit grundlegend verändern. Sind wir dazu bereit? […]
Es gab eine Zeit, da als Motivation für die Unterstützung der Russlanddeutschen die Hoffnung bestand, sie könnten eine Brücke der Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland bilden. Zunächst haben wir begonnen, diese Brücke von Russland aus zu bauen. Aber der Staat hat nichts getan, um die Ausreise der Deutschen einzudämmen. Dann hat man von Deutschland aus an der Brücke gebaut. Das waren unsere ehemaligen Landsleute. Aber eine Brücke ist nie zustande gekommen.
Eine weitere entscheidende Frage: Wer bezahlt? Worüber wir genau Bescheid wissen, sind die Mittel, die aus Deutschland kommen. Hier ist die Arbeit klar und übersichtlich strukturiert. Wir können mit dem Verfahren oder mit einzelnen Bedingungen unzufrieden sein, aber wir kennen die Ansprechpartner in den Regionen, wir bekommen eine Antwort vor Ort und müssen nicht immer gleich nach Moskau fahren.
Über die russischen Mittel wissen wir so gut wie nichts: Wie viel gibt es wofür? Wer hat welche Entscheidung getroffen? Wann bekomme ich die Mittel? Wen kann ich fragen und wie sind die örtlichen Behörden eingebunden? Vor Jahren gab es einmal eine Direktion für die Förderprogramme im (nicht mehr existierenden) Nationalitätenministerium. Dort hatten wir zumindest einen Ansprechpartner. Im heutigen Ministerium für Regionalentwicklung gibt es keine vertikalen Strukturen, also keine Entsprechungen in den Gebietsverwaltungen. […]
Nächste Frage: Sind wir ein Spielball der Interessen? Rund um die Lösung der Frage nach der nationalen Wiedergeburt der Russlanddeutschen ist ein ganzes Geflecht unterschiedlicher Interessen entstanden, in dem man sich erst einmal zurechtfinden muss. Versuchen wir, es etwas zu lichten. Die Interessen werden in der Fragestellung und in den Lösungsvorschlägen deutlich. In unserer Arbeit müssen wir das gut unterscheiden können.
Zunächst einmal die Interessen Deutschlands. Dieser Staat hat als erster seine Verantwortung gegenüber den Sowjetdeutschen bzw. später den Russlanddeutschen klar artikuliert. Auch wenn zu Sowjetzeiten das Engagement nicht frei von politischen Interessen war, so ist die Unterstützung heute völlig pragmatisch, zielorientiert und vor allem langfristig angelegt. Unsere Partner in Deutschland haben Strukturen geschaffen, die es ermöglichen, im Rahmen der russischen Gesetze Haushaltsmittel aus Deutschland zur Unterstützung russlanddeutscher Organisationen bereitzustellen. Auch Regierungswechsel haben nicht zu einer Veränderung der grundlegenden Haltung Deutschlands gegenüber den Russlanddeutschen geführt. […]
Wo liegen die Interessen unserer russischen Heimat? Die Haltung der russischen Verantwortlichen ist, seitdem sie offiziell die Probleme der Russlanddeutschen überhaupt anerkannt haben, immer widersprüchlich, halbherzig und unklar gewesen.
Das ist auch in der jetzigen Periode zu beobachten. Auch wenn sie einige Millionen Rubel zur Unterstützung ihrer Deutschen ausgeben wollen, gibt es bislang noch keine Strukturen, über die dieses Geld auch den letzten Deutschen hier erreichen kann. Vor allem wurde überhaupt nichts dafür getan, um in Russland Strukturen für die nationale Wiedergeburt unseres Volkes entstehen zu lassen.
Aus meiner Sicht erfolgt die Unterstützung von russischer Seite ohne klar definiertes Ziel. Sicher nicht zufällig ist in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, das Gesetz über die von Repressionen betroffenen Völker sei erfüllt oder bestenfalls für die jetzige russische Gesellschaft nicht mehr aktuell. Es schmerzt mich sehr, diese Schlussfolgerung ziehen zu müssen.
Das Bemerkenswerteste aber ist die anhaltende Spaltung der russlanddeutschen Organisationsstruktur. Es gibt den IVdK, die FNKA, die Landsmannschaft der Wolgadeutschen und die Assoziation der Deutschen Sibiriens, das Föderale deutsche Kulturzentrum und die „Gemeinschaft“. Dazu kommen noch Dutzende regionaler, selbstständiger Organisationen, um deren Gunst die Organisationen auf föderaler Ebene ständig ringen. Aber diese Organisationen schaffen es irgendwie, aus eigener Kraft zu überleben. Ihr wichtigstes Ziel besteht darin, Mittel dafür zu bekommen, um auch den Deutschen im entlegensten Dorf zu erreichen.
Die Uneinigkeit unserer Organisationen ist besonders für die Zusammenarbeit mit den staatlichen Strukturen Deutschlands und Russlands von großem Schaden, da jeder Beamte in der Vielfalt von Meinungen die ihm genehme findet. […]
Nun haben wir eine neue Form der Selbstorganisation: die überregionalen Koordinationsräte. Die Zeit vergeht, viel verändert sich. Und da ist es wichtig, dass auch das Gefüge der russlanddeutschen Strukturen in Bewegung bleibt. Wenn es zur Stagnation kommt, entsteht ein Sumpf, den weder unser Volk noch Russland wieder in Bewegung bringen könnte. Und man stimmt mir sicher zu, dass unser Land die erste Geige spielen sollte. Aus meiner Sicht sind erste Elemente einer Stagnation schon zu erkennen, insbesondere in den Regionen. […]
Die Idee, die russlanddeutschen Strukturen in Form überregionaler Koordinationsräte in Bewegung zu halten, wurde im IVdK geboren. Sie sind gerade im Entstehen begriffen, und nichts ist einfacher, als sie zum jetzigen Zeitpunkt mit Kritik zu überhäufen. Um aber die von unseren Organisationen verkündeten Ziele zu erreichen, brauchen wir die Koordination, wenn wir es schon nicht schaffen, uns zu vereinen. […]
Ich möchte mich mit vorläufigen Schlüssen zurückhalten. Jede Region muss ihren Weg finden, es gibt keine fertigen Rezepte. Wichtig ist nur, dass der Kampf für oder gegen das System der Koordinationsräte nicht wieder zum eigentlichen Ziel wird und die Suche nach „Feinden“ die Suche nach Wegen zur Zusammenarbeit und Selbstorganisation dominiert. […]
Quelle: Александр Нахтигаль: „В чьих руках наше будущее?“,
Aleksandr Nachtigal‘: „V c’ich rukach nase buduscee?“,
http://www.rundschau.mv.ru/, Stand: 8. Dezember 2008;
Übersetzung: Norbert Krallemann
Wanner.michael@t-online.de, 17.03.2009 10:33:49:
Grüß Gott Herr Nachtigal, Ich habe eine bitte an Sie. Wir, der Historischer Vorschungsverein der Deutschen aus Russland e.V. (siehe HFDR.de), brauchen ein gutes Foto aus den 20-40- -Jahren für unser Jahreskalender, das dass Leben der Menschen der Region zeigt. Können Sie mir bitte helfen Mit freundlichen Grüßen Michael Wanner 17.03.2009