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Von Angela Schmidt-Bernhardt
Olga, Tanja und Lydia sprechen fließend und akzentfrei Deutsch, gehen aufs Gymnasium und wollen später studieren. Zum Schulerfolg tragen hohe Bildungsaspirationen, enge familiäre Bindungen und eine große Anpassungsbereitschaft bei. Trotz guter Leistungen erleben die jungendlichen Spätaussiedlerinnen die Institution Schule jedoch als streng, fordernd und unerbittlich. Das bestehende monokulturelle Schulsystem zwingt Jugendliche mit Migrationshintergrund dazu, einen Teil ihrer Identität zu verstecken.
Der Leistungskurs Politik und Wirtschaft in einem Gymnasium in einer osthessischen Kleinstadt. Die Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 12 hören aufmerksam zu. Zum ersten Mal erzählt Mitschülerin Lydia aus ihrem Leben. Lydia war sechs Jahre alt, als sie 1994 mit ihrer Familie von Kasachstan nach Deutschland übersiedelte. Nach den ersten Wochen im Durchgangslager Friedland bekam die Familie eine Wohnung in einem Dorf in Osthessen. Lydia ging dort auf die Grundschule. Nachmittags hatte sie viel Zeit. Der Spielplatz lag nur wenige Meter von der Wohnung entfernt.
Zweimal war Lydia dort gewesen. Dann traute sie sich nicht mehr hin. Ältere deutsche Jungen hatten sie beschimpft und ihr gedroht: „Hau bloß ab, du kleine Russenschlampe, du hast hier überhaupt nichts zu suchen. Geh wieder nach Russland, und lass dich hier nie wieder blicken.“ Lydia zog sich nachmittags in die kleine Wohnung zurück, kletterte die Leiter hoch in das oberste Etagenbett, kuschelte sich in die Federbetten und lernte Deutsch. Sie wollte genauso sprechen wie die Anderen, wie die „richtigen“ Deutschen. Aber sie machte noch etwas Anderes. Sie fragte ihre Eltern. Sie verstand es nicht, wieso man sie als Russin beschimpfte. Schließlich hatten ihre Eltern erzählt, dass sie Deutsche seien.
So erfuhr sie nach und nach, wie ihre Großeltern und Urgroßeltern als Deutsche in einem nur von Deutschen bewohnten Dorf in der Ukraine gelebt hatten. Wie sie im Zweiten Weltkrieg von einem Tag auf den anderen den Ort verlassen mussten, wie die Großeltern in Viehwaggons nach Kasachstan gebracht wurden. Wie sie in der kasachischen Steppe sich aus dem Nichts ein neues Leben aufbauten. Die Elterngeneration hatte es in Kasachstan zwar zu bescheidenem Wohlstand gebracht, doch fühlten sie sich nach dem Ende der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Kasachstans dort nicht mehr sicher. Sie sprachen besser Russisch als Deutsch und kannten die russische Geschichte und Kultur. Der nun aufkeimende kasachische Nationalismus machte sie jedoch wieder zu Fremden. So entschieden sie sich dafür, den Ausreiseantrag nach Deutschland zu stellen. Jahrelang saßen sie innerlich auf gepackten Koffern, die Kinder sollten nichts davon merken. Bis eines Tages der erlösende Brief von der Behörde kam: Die Familie erhielt die Erlaubnis zur Ausreise.
Unterschiedliche Bildungswege bei Mädchen und Jungen
Viele Aussiedlerinnen besuchen das Gymnasium. Tanja, Olga und Viktoria sind in der gleichen Jahrgangsstufe wie Lydia. Alle haben gute Noten, alle streben das Abitur an, alle wollen studieren. Sie sprechen akzentfrei Deutsch. Ihren Migrationshintergrund lassen sie nicht durchblicken. Seit 1991 sind mehr als dreieinhalb Millionen Menschen als Aussiedlerinnen und Aussiedler nach Deutschland gekommen. Ein Drittel war bei der Einreise jünger als 20 Jahre.
Foto: Sanja Gjenero/stock.xchng
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Junge Aussiedler aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion,
insbesondere aus Russland und Kasachstan, bilden die zahlenmäßig größte
Gruppe jungendlicher Einwanderer seit 1991. Die Aussiedler insgesamt
sind nach den Türken die größte Migrantengruppe in Deutschland. Sie
fanden und finden in der bundesdeutschen Öffentlichkeit vergleichsweise
wenig Beachtung. Das hängt vor allem mit ihrem Status zusammen: Als
Deutsche nach Deutschland gekommen und mit einem deutschen Pass
ausgestattet, wollte die Elterngeneration selbst nicht als Migranten
angesehen werden, sondern betonte ihre deutsche Identität.
Somit
brachten sie sich selbst um Interesse und Aufmerksamkeit. Sie waren ja
in ihre „Heimat“ zurückgekehrt. Aufmerksamkeit wurde erst den nicht
Angepassten zuteil, den Auffälligen, zumeist männlichen Jugendlichen,
die in Deutschland als Russe bezeichnet wurden, sich bald selbst
russisch fühlten und im Schutz der Clique negative Schlagzeilen
verursachten.
Die weiblichen Jugendlichen mieden dagegen
weitgehend die „Russencliquen“, definierten sich über hohe
Bildungsaspirationen, gute Deutschkenntnisse und hohe
Leistungsbereitschaft. In sozialwissenschaftlichen Studien tauchen sie
erst seit 2004 auf, seit nicht mehr die Staatsangehörigkeit, sondern
der Migrationshintergrund der Familie als Merkmal herangezogen wird.
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freundlicher Genehmigung der Zeitschrift "nah & fern" |
Das Kulturmagazin "nah & fern" berichtet über Migration, Partizipation und benachbarte Themen in Politik, Arbeitswelt, Gesellschaft und Kultur. Zentral ist dabei die Frage, ob und inwiefern Migrantinnen und Migranten gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben in Deutschland und anderen Ländern teilhaben können. Die erste Ausgabe von "nah & fern" erschien noch in der "alten" DDR im Sommer 1989 zum Kirchentag in Leipzig. Zunächst herausgegeben vom Ökumenisch-Missionarischen Zentrum Berlin-Ost, beteiligte sich ab der zweiten Ausgabe das Evangelisch-Lutherische Missionswerk Leipzig (LMW) an der Herausgabe der Zeitschrift. Seit November 2005 erscheint die die Zeitschrift im von Loeper Literaturverlag. |