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Assimilation oder Emigration

Beobachtungen im Autonomen Nationalen Landkreis Halbstadt

Seit hundert Jahren leben Deutsche im Altai. Derzeit feiert man allerorten das Siedlungsjubiläum. In einem Telegramm an Dmitrij Kosak, Minister für Regionalentwicklung, treten allerdings auch Sorgen zutage: Die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe der Region sorgt sich um ihre Zukunft. Exklusiv für die „Rossijskaja Gazeta“ hat Alena Puschkarjewa den Rayon Halbstadt besucht und mit den Menschen gesprochen. Ihr Text erscheint mit freundlicher Genehmigung der Redaktion leicht gekürzt in deutscher Übersetzung.

Halbstadt, im August 2008 – Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ließen sich im Zuge der Agrarreform des damaligen russischen Ministerpräsidenten Stolypin russlanddeutsche Bauern, die bis dahin hauptsächlich in den südlichen Gouvernements lebten, in der Altairegion nieder. Hier bekamen sie Land, viel Land. Sicher, die Nachfahren jener Übersiedler sehen das eher skeptisch. „Was haben sie hier schon vorgefunden? Ausgedörrte Steppe und ständig viel Wind“, hört man sie heute sagen.

Aber Tatsache ist: Im Altai leben die Russlanddeutschen inzwischen in der vierten Generation. Und das Land, in das sich einst die ersten Ansiedler verliebten, unterscheidet sich merklich von vielen anderen Ländereien in der Region: gut bestellte Felder, ein funktionierendes Bewässerungssystem, saubere asphaltierte Dorfstraßen, gepflegte Häuser. Zwischen den Hofzäunen und der Straße verläuft lediglich ein begrünter Randstreifen ohne Bäume, Beete oder die bei russischen Menschen so geliebten Bänke. Dieser Randstreifen lässt sich so besser sauber halten. Und bei den Deutschen heißt es, wo es sauber ist, ist es auch schön.

Auch das Wirtschaftsleben war hier immer vorbildlich: leistungsfähige Landwirtschaftsbetriebe, reiche Ernten und entsprechend hohe Einnahmen. „Die Deutschen haben immer eine Zukunft, weil sie arbeiten“, glaubt Bruno Reiter, Landrat im deutschen Rayon Asowo, Verwaltungsgebiet Omsk. Die Omsker Deutschen würden noch hundert Jahre brauchen, um den Zustand wie hier im Altai zu erreichen, sagte er bei seiner Gratulation zum 100-jährigen Jubiläum.

Aber nicht alles konnte erhalten oder vermehrt werden. „1990 konnte ich hier in Slawgorod noch überall Deutsch hören. Aber jetzt sprechen die Deutschen untereinander nur noch russisch, so dass mir auch nichts anderes übrig bleibt“, stellte Martina Klement vom Generalkonsulat in Nowosibirsk traurig fest.

Foto: Wladimir Krylow
Auf den Straßen ist tatsächlich kein deutsches Wort mehr zu hören. Zu Hause sprechen nur noch die Alten in ihrer Muttersprache, übrigens nicht nur im Rayon Halbstadt, sondern auch in den Nachbarorten Slawgorod oder Jarowoje. Die erwachsenen Kinder tun es hauptsächlich aus Respekt vor ihren Eltern. Die Enkel dagegen lehnen die bislang gepflegte Praxis, wenigstens in den eigenen vier Wänden die deutsche Sprache zu pflegen, in der Regel ab. „Nicht einmal zu Hause wollen sie deutsch sprechen“, sagt bedauernd der 78-jährige Heinrich Wiebe aus dem Dorf Kussak. „Spricht man sie deutsch an, antworten sie: Sag’s bitte russisch!“

Der alten Generation bleibt nur eine Hoffnung, die Schule. Von deutscher Seite wurde ein Programm entwickelt, nach dem die Kinder Deutsch von Muttersprachlern lernen sollen, von Lehrern, die eigens zu diesem Zweck aus Deutschland kommen. Die zweite Variante sieht vor, dass einheimische Deutschlehrer nach entsprechender Weiterbildung in der historischen Heimat diesen Unterricht durchführen. Die Kinder, die nach Absolvierung dieses Programms die Schule beenden, können ohne weitere Prüfungen oder zusätzliche Sprachkurse ein Studium an einer deutschen Hochschule aufnehmen. Zurzeit werden noch die erforderlichen juristischen Details dieses Programms ausgearbeitet.

Der Landrat des deutschen Rayons Halbstadt, Fjodor Eckert, berichtet, dass sich die Bevölkerungsstruktur zu 90 Prozent gewandelt hat. Die Nachfahren der ersten Siedler sind inzwischen größtenteils nach Deutschland ausgewandert. Nachgerückt sind nicht nur Deutsche aus Nordkasachstan, sondern auch Angehörige anderer Nationalitäten, so dass der Anteil der deutschen Bevölkerung im Rayon stark zurückgegangen ist.

„Mein Vater hat in Jalta am Schwarzen Meer gelebt. Von dort ist er ins Omsker Gebiet und später hierher in den Altai gezogen. Meine Schwestern und mein Bruder leben heute in Deutschland, ebenso wie drei meiner Kinder und deren Kinder“, erzählt uns Heinrich Wiebe. Er selbst will auf gar keinen Fall nach Deutschland ziehen. Ihm genügt es, von Zeit zu Zeit die Verwandten zu besuchen. Hier in Kussak lebt noch eine Tochter mit ihrem Mann und 13 Kindern. Insgesamt hat Heinrich Dietrichowitsch vier Kinder, 31 Enkel und vier Urenkel.

Zuweilen kommt es vor, dass Emigranten zurückkehren. Dann steckt aber häufig eine familiäre Geschichte ohne Happy End dahinter. Viele glauben hier, dass sich junge Leute schnell an das Leben in Deutschland anpassen können. Es gibt aber auch Ausnahmen. Ein junges Ehepaar mit einem Kleinkind kehrte kürzlich in den Altai zurück, nachdem es zwei Jahre ohne Arbeit in Deutschland gelebt hatte. Auf die Frage: Warum? antworteten die Eheleute: „Wir hatten nichts zu tun.“

Glaubt man den Deutschen hier, gibt es noch einen weiteren Aspekt, in dem sich die jungen Leute heute von ihren Vorfahren unterscheiden. Das ist das Verhältnis zur Religion. Die ersten Siedler waren Mennoniten, Lutheraner oder Baptisten mit bekanntlich sehr strengen Regeln. Nicht umsonst waren gestickte oder gemalte Bibelsprüche ein obligatorisches Attribut jedes deutschen Hauses. Mit den Jahren haben sich die Glaubensrichtungen der Russlanddeutschen verändert. Es gab immer mehr Baptisten, Adventisten und Orthodoxe unter den Deutschen. Am stärksten aber wuchs die Zahl der Atheisten unter ihnen.

Heute gibt es in Halbstadt in der Mendelejew-Straße eine neu erbaute orthodoxe Kirche […]. An der Tür des provisorischen Gebäudes im Kirchgarten, in dem die Gläubigen während der Bauarbeiten am Kirchengebäude beteten, ist zu lesen, dass die Gottesdienste immer sonnabends 10.00 Uhr morgens stattfinden. Die Feierlichkeiten zum hundertjährigen Jubiläum Halbstadts und der hundertjährigen Ansiedlung der Deutschen im Altai begannen just an einem Sonnabend, noch dazu an einem hohen orthodoxen Feiertag, und wurden von den Glocken der orthodoxen Kirche eingeleitet.

„Das wichtigste ist der Glaube“, sagt Heinrich Wiebe, der viele Jahre die Gottesdienste in der Baptistenkirche besucht hat. „Aber die jungen Leute kommen nicht mehr ins Bethaus. Hier in Kussak gibt es nur noch ganz wenige und durchweg alte Kirchgänger.“

Vor zehn Jahren haben viele Altaier Deutsche einer soziologischen Studie zufolge auf die Frage, wie sie ihre Zukunft sehen, pessimistisch geantwortet: in der Assimilation. Die häufigste Antwort jedoch lautete: in der Emigration. […] In einer anderen Volksgruppe aufgehen aber wollen sie auf keinen Fall. „Die Kultur eines Volkes ist keine Popkultur, sie kann sich nicht selbst finanzieren. In aller Welt fördern Staaten ihre nationalen Kulturen“ meint Heinrich Martens, Vorsitzender des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur (IVdK).

Unser Staat unterstützt die Russlanddeutschen. Es gibt zwar noch kein Gesetz, dass deren Selbstbestimmung regelt, aber das Zielprogramm zur Förderung der Russlanddeutschen wird in diesem Jahr um weitere fünf Jahre verlängert. Dieses Programm stellt Martens zufolge zwar kein Ideal dar, ist dafür aber in politischer Hinsicht umso wichtiger, signalisiert es doch Deutschland, dass die russische Regierung dieser Volksgruppe hilft, was auch von deutscher Seite erwartet wird.

Die finanzielle Seite bereitet den Verantwortlichen im deutschen Rayon Kopfschmerzen: Wie sollen unter heutigen Bedingungen die in jedem Dorf des Rayons […] gebauten Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Stadien und Sporthallen unterhalten und erhalten werden? Die Landwirtschaftsbetriebe im Rayon sind zwar recht stark, aber der Erhalt dieses sozialen Standards übersteigt auch ihre Kräfte.

Die einzige Hoffnung ruht auf der Unterstützung durch die russische und die deutsche Regierung. Daher haben die Altaier Deutschen beschlossen, dem Minister für Regionalentwicklung, Dmitrij Kosak, ein Telegramm zu schicken, in dem sie ihn bitten wollen, Abordnungen der deutschen Rayons zu empfangen. Während der Audienz wollen sie ihm darlegen, dass die Deutschen ohne staatliche Unterstützung den in hundert Jahren geschaffenen gesellschaftlichen Reichtum nicht erhalten können.

Übrigens können die Deutschen bereits auf eine gute Unterstützung vor Ort bauen. Wie der Vorsitzende der deutschen Kulturautonomie in der Altairegion, Alexander Enns, mitteilte, interessieren sich die Behörden der Region schon längst für das zahlenmäßig zweitgrößte Volk im Altai. Der Gouverneur der Region, Alexander Karlin, so Enns, habe versprochen, hier im Rayon ein internationales Sprachlager aufzubauen. In diesem Zusammenhang seien eine Summe von 700 Millionen Rubeln und der Name von Minister Kosak gefallen, mit dem sich der Gouverneur aus diesem Anlass treffen will.

Quelle: Алена Пушкарева: „Жизни век“,
Alena Puskarjeva: „Zizni vek“,
Rossijskaja Gazeta
http://www.rg.ru/2008/08/07/reg-altaj/galbstadt.html,
Übersetzung: Norbert Krallemann

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