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Erste Gehversuche in der neuen Heimat – Aussiedler in Deutschland

Serie Teil 1

Berlin (ORNIS) - Mit einer vierteiligen Serie gibt ORNIS einen Einblick in den Alltag von Aussiedlern, die aus Russland oder Kasachstan nach Deutschland kommen. Der erste Teil beschreibt die Ankunft in der neuen Heimat, die zuweilen Überraschungen und Enttäuschungen bereithält.


Kaum hatte der Zug die letzte Grenze passiert, wuchs die Spannung im Abteil spürbar. Noch knapp drei Stunden bis zum Ziel, und dies war nun das Land, das künftig Heimat heißen sollte. Die Kinder stritten um den besten Platz am Fenster, nicht weniger erwartungsvoll blickten ihnen die Erwachsenen mit gereckten Hälsen von ihren Sitzen über die Schulter, um einen ersten Eindruck zu erhaschen. Draußen war es diesig, es regnete, der Empfang hätte freundlicher sein können. Ein wenig aber entsprach das Wetter den Gefühlen, die die Menschen in dem Abteil wohl beschlichen.

Die Entscheidung zur Ausreise war schon vor langem gefallen, und heute war der Tag, dem alle besorgt und entschlossen, beängstigt und hoffnungsvoll zugleich entgegen gefiebert hatten. Der kleine Ort in Kasachstan lag bereits weit hinter ihnen, und doch war an den Gesichtern der Reisenden abzulesen, dass ihre Gedanken immer wieder zurückkehrten, so als weigerten sie sich anzukommen.

Alexander S., seine Frau Erna und die drei Kinder Xenia, Sascha und Wanja waren ein paar Tage zuvor von Freunden und einer Handvoll Verwandter verabschiedet worden. Zum ersten Mal reisten sie außer Landes, eigentlich waren sie aus ihrem Dorf im Norden Kasachstans nur selten herausgekommen, Alexander mal nach Karaganda und Semipalatinsk, Erna vor vielen Jahren zur Ausbildung in die Hauptstadt, als sie noch Alma-Ata hieß. Nun waren sie auf dem Weg nach Berlin.

Sie hatten schon gehört, dass Berlin die größte Stadt Deutschlands ist, die Hauptstadt gar – und es war wirklich beruhigend zu erfahren, dass in Berlin schon viele tausend Menschen leben, die aus Russland und Kasachstan stammen. Jetzt war es ein Glück, dass Alexanders Schwester Olga mit Mann und Kind schon vor zwei Jahren nach Deutschland ausgesiedelt war. Sie leben nicht weit von Berlin entfernt, und natürlich hatten sie versprochen, die Neuankömmlinge am Bahnhof in Empfang zu nehmen. Vorsorglich hatten sie noch ein zweites Auto ausgeliehen - für das Gepäck.

Als der Zug etwas verspätet Berlin erreichte, war es bereits dunkel. Olga wartete am Bahnsteig und half beim Entladen der vielen Gepäckstücke. Ihr Mann meinte, es sei ein Glück, dass man die Koffer, Taschen und Tüten durch das Abteilfenster heben könne. Es gebe in Deutschland schon viele Züge, deren Fenster überhaupt nicht zu öffnen seien. Wegen der Klimaanlage. Kaum war alles draußen, da drängte er zur Eile, weil die Parkuhr vor dem Bahnhof bestimmt schon abgelaufen sei, und das könne teuer werden. Alexander war von der langen Reise zu müde, um über Klimaanlage und Parkuhr nachzudenken, aber eigenartig war´s schon, was sein Schwager so erzählte.

Als sie schließlich im Auto saßen auf dem Weg ins Aufnahmelager, waren sie froh, dass Olga und ihr Mann alles in die Hand genommen hatten. Man stelle sich vor, ohne Hilfe und mit ein paar Brocken Deutsch in Berlin oder anderswo anzukommen. Sobald man das Lager erreichen würde, habe man wieder Boden unter den Füßen – Behörden, Staat und Verwaltung würden schon alles gerichtet haben und genau wissen, wie es mit ihnen weitergehe. So glaubten sie.

Drei Tage dauerte der Aufenthalt im zentralen Aufnahmelager - Olga und ihr Mann waren längst wieder zu Hause -, bis sie in ein Übergangslager in einem südlichen Stadtteil von Berlin geschickt wurden. Man hatte ihnen allerlei Papiere gegeben, darunter ein Blatt, das die freundliche Mitarbeiterin im Lager „Laufzettel“ nannte. Dieses Wort stand noch nicht einmal im Wörterbuch, aber es war klar, dass der Laufzettel so ziemlich das wichtigste Papier war. Darauf stand, was alles in den folgenden Tagen zu erledigen sei.

Von den anderen Bewohnern des Lagers war nicht viel Hilfe zu erwarten, einige waren ebenfalls erst gerade aus Russland oder Kasachstan gekommen und genau so unerfahren wie Alexander und seine Familie, manche waren Flüchtlinge aus allerlei Ländern, und die einheimischen Deutschen im Lager hatten selbst genug Probleme, alle Neuankommende an die Hand zu nehmen. Komisch, sagte Alexander eines Morgens zu seiner Frau, in Deutschland ist alles bis ins Letzte organisiert, aber man muss erst selber dahinter kommen.

Also machten sie sich in den folgenden Tagen auf den Weg, immer zu fünft, denn bei vielen Stellen müssen alle aus der Familie persönlich erscheinen. In den ersten Tagen gaben sie eine Unmenge Geld für öffentliche Verkehrsmittel aus, erst U-Bahn, dann S-Bahn, dann Bus – jedes Mal mehr als zwei Euro pro Person beim Umsteigen. 30 Euro hin und 30 Euro zurück. Viele Leute in Deutschland haben wohl deshalb ein eigenes Auto, dachte Alexander, weil sie sich öffentliche Verkehrsmittel nicht leisten können. Dann klärte ihn ein anderer Aussiedler auf, dass man bei Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur einmal bezahlen muss, selbst beim Umsteigen – und dass es auch für Einheimische nicht immer leicht sei, den genauen Fahrpreis zu ermitteln. An den meisten Bahnsteigen stehen nämlich Automaten, die häufig nicht einmal Wechselgeld zurückgeben. Tagelang hatte die Familie viel zuviel bezahlt, aber woher hätte man es denn wissen können?

Auf dem Sozialamt erfuhr Alexander, wie hoch die monatliche Unterstützung für die fünfköpfige Familie sein würde. Erst glaubte er, nicht recht verstanden zu haben. Erna war genau so überrascht: tausend Euro. In Tenge oder Rubel umgerechnet - kaum vorstellbar. Die Freude über den Reichtum hielt nicht lange an. Ein paar Tage später hatten sie gelernt, wie schnell in Deutschland ein solcher Betrag ausgegeben ist. Nicht etwa für Luxusdinge, weil das Angebot so reichhaltig ist und alles so nützlich scheint. Nein, wenn man alle nötigen Ausgaben bedenkt und dann auch noch Lebensmittel kaufen muss, sind tausend Euro schnell aufgebraucht.

Als Alexander und Erna das Wort ´Arbeitsamt` gelernt hatten, glaubten sie noch, dort könne man eine Arbeitsstelle erhalten. Eigentlich ist das auch so. Doch wenn es nicht genug freie Arbeitsplätze gibt, und wenn ein Bewerber kaum Deutsch spricht, wenn darüber hinaus Landwirte, Fahrer und Traktoristen in Deutschland nicht gesucht werden, dann sieht es zunächst schlecht aus. In anderen Fällen werden Berufsausbildungen nicht anerkannt, und man muss sich damit abfinden, vielleicht eine ganz andere Tätigkeit zu bekommen – wenn überhaupt. Alexander jedenfalls, der in Kasachstan einen Krankenwagen gefahren hatte, wird es nicht leicht haben, eine Arbeit zu bekommen. Und das kann lange Zeit so bleiben.

Doch alle in der Familie sind zuversichtlich. Ihr Sprachkurs hat schon begonnen, und bald werden alle so gut Deutsch sprechen wie Olga und ihr Mann, die ja auch noch nicht so lange in Deutschland leben. Die Kinder gehen zur Schule, und für Wanja haben sie einen Kindergartenplatz gefunden. Glück gehabt, denn in Deutschland ist es nicht selbstverständlich, dass alle Kleinkinder einen Platz im Hort bekommen.

Den Schritt in eine Krankenversicherung haben sie auch geschafft, dabei haben andere Aussiedler Ratschläge gegeben. Denn manche Versicherungen weigern sich, Aussiedler aufzunehmen, die Sozialhilfe beziehen. Und die einzige Versicherung, die Bewerber nicht abweisen kann, weil sie mit staatlichen Mitteln betrieben wird, hat Alexander und seine Familie mit allerlei Empfehlungen und Ausflüchten tagelang herumgeschickt. Alexander wollte schon aufgeben, als er einen hilfreichen Bekannten aus früheren Zeiten traf, der schon lange in Deutschland lebt. Die Sache mit der Krankenversicherung war schnell erledigt.

Von zwei Dingen hatte die Familie schon in Kasachstan geträumt: ein eigenes Auto zu fahren und eine eigene Wohnung zu haben. Alexander hatte gehofft, bald mit der Familie Verwandte in anderen Städten zu besuchen und dazu vielleicht ein etwas älteres Fahrzeug zu finden. Ein Liter Benzin kostet ein Euro und mehr, Versicherung und Steuer müssen für ein Auto bezahlt werden, bevor man auch nur einen Kilometer gefahren ist. Und dann zeigt sich, dass die staatliche Sozialhilfe für eine fünfköpfige Familie einfach nicht reicht.

Und die Wohnung: In den Zeitungen werden an jedem Wochenende Hunderte von freien Wohnungen angeboten, kleine und große, teure und preiswerte, Luxusappartements und bescheidene Räume. Ein Freund aus dem Wohnheim, der schon recht gut deutsch spricht, hat für Alexander die Besitzer oder die Verwalter angerufen und gefragt, ob die Wohnung noch frei sei. Bei einigen Wohnungen sollte zusätzlich noch eine Gebühr an einen Vermittler bezahlt werden.

Aber jedes Mal, wenn nach Beruf und Einkommen gefragt wurde und das Wort ´Sozialhilfe` fiel, war die Wohnung schon an andere Interessenten vergeben. Einige Vermieter sagten offen, dass sie nur an Personen mit einem festen Einkommen vermieteten und baten um Verständnis. Es kam auch vor, dass Alexanders Freund gerade das Telefonat begann - mit seinem russischen Akzent, da wurde am anderen Ende aufgelegt. Es wird wohl noch eine Zeitlang dauern, bis die Familie in der neuen Heimat heimisch wird.

 
Links zum Thema
Schulprjekt zum Thema "Aussiedler"
Fotowettbewerb zum Thema "Aussiedler"

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