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Jetzt, nach acht Jahren in Deutschland, kenne ich ihre Bedeutung: Nach geltenden Vorschriften dürfen hier Kinder keine Milch trinken, die mit mehr als 370 Becquerel pro Liter belastet ist. Rund um Gomel hat man damals bis zu 2000 Becquerel pro Liter gemessen. Die Verstrahlung der Pilze lag bei bis zu 200.000 Becquerel pro Kilo. Jetzt weiß ich: Aus diesem Grund mussten wir damals hungern, besonders in den ersten Wochen nach der Katastrophe. Mutter öffnete damals ratlos die Küchenschränke, suchte darin nach alten, noch unverstrahlten Lebensmitteln - und weinte. Täglich kämpfte sie sich durch die Schlangen am Einkaufszentrum, blieb stundenlang fern und kehrte zerknittert, zerkratzt mit leeren Taschen zurück. Jodtabletten waren sofort vergriffen, und sie versuchte, etwas Fisch zu bekommen. Es gab nichts. Nur jodhaltige Meeresalgen hatte einer verkauft.
Eine ernste Radiostimme gab uns im Auftrag des Gesundheitsministeriums Richtlinien vor; wir sollten trotz Strahlung die Illusion der Normalität bewahren. Wir folgten den Empfehlungen, schüttelten unsere Kleider aus, wischten die Schuhe, kochten das Wasser mehrmals ab und begriffen bald, dass die Normalität so unmöglich war. Ich bekam jedesmal Gänsehaut, wenn ich in einer weißen Mullmaske zu Schule ging und unterwegs den anderen maskierten, vorsichtig gehenden (um keinen Staub aufzuwirbeln) Kindern begegnete.
Nach einigen Wochen gaben wir auf. Wie die meisten. Denn draußen war Sommer. Die Natur betörte mit ihrer Schönheit: Die Erde roch nach Fruchtbarkeit, die Apfelbäume in unserem Hof kleideten sich in zartes Rosa. Die Plage Strahlung war unsichtbar, und so spielten bald wieder die Nachbarskinder im Sandkasten. Großmutter schickte uns einen Eimer voller Erdbeeren aus ihrem Garten mit den Worten: „Wo ist sie, diese Strahlung? Es schmeckt doch.“ Und wir aßen mit Appetit.
Währenddessen begann man, Dörfer um Gomel herum zu evakuieren. Davon erfuhr ich erst in Deutschland. Etwa 130.000 Menschen mussten die Dörfer um unsere Stadt verlassen, doch Gomel selbst, die zweitgrößte Stadt Weißrusslands mit einer halben Million Einwohnern, blieb. Wie siedelt man fünfhunderttausend Menschen um?
Wir saßen fest, und wir saßen alle im selben Boot. Und ohne es öffentlich miteinander auszumachen, begannen wir gemeinsam ein Verdrängungsspiel. Keiner sprach mehr ein Wort von Tschernobyl. Man musste ja in dieser Stadt leben. Nach Möglichkeit taten wir so, als ob nichts gewesen wäre; wir sehnten uns nach einer ‚normalen’ Wirklichkeit und versuchten, uns eine auszudenken.
Von jetzt an mussten wir uns jährlich in einem Krankenhaus untersuchen lassen. Wir Kinder marschierten klassenweise dorthin, und man tastete uns die immer dicker, immer störender werdenden Schilddrüsen ab. Die Anrufe und Einladungen von Verwandten wurden seltener. Man sagte, wir würden ‚strahlen’ - und wir drängten uns nicht auf. Damals wussten wir noch nicht, wie mächtig unser Gegenspieler war. Er kostete Menschenleben, er kostete uns unsere Gesundheit.
In Deutschland lernte ich später Menschen kennen, die versucht haben, die Wahrheit über Tschernobyl und über unser Leben herauszufinden. Solche wie Bernhard Meier. Er leitet Tschernobyl-Initiativen im Süden Bayerns und in Österreich. Dieser schleichende Tod habe ihn berührt, sagt er. Dieser unsichtbare, schwer abschätzbare Feind und die Menschen, die im damaligen sowjetischen Riesenreich auf wenig Unterstützung und Information hoffen konnten. „415 Siedlungen im Gomeler Gebiet wurden bis 1995 evakuiert“, erzählt er mir. „Erst heute, knapp zwanzig Jahre nach der Katastrophe, werden die gesundheitlichen Schäden klar. Dreißig Mal mehr Kinder in Weißrussland erkranken heutzutage an Schilddrüsenkrebs im Vergleich zu der Zeit vor 1986. Alle anderen Krebsarten sind auch drastisch gestiegen.“
Als Grundlage dient Meyer ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation. Darin steht: „Ein Drittel aller Kinder aus dem Gomeler Gebiet, die zum Zeitpunkt der Tschernobyl-Katastrophe zwischen null und vier Jahre alt waren, werden im Laufe ihres Lebens an Schilddrüsenkrebs erkranken.“ Er sieht mich eindringlich an und fügt hinzu: „Es bedeutet, dass allein im Gomeler Gebiet rund fünfzigtausend Menschen sterben würden. Wenn man bei dieser Prognose andere Altersgruppen berücksichtigt, kommt man auf eine Zahl, die weit über hunderttausend liegt.“
„Ungeachtet anderer Krebsarten“, denke ich. „Hunderttausende“, denke ich. Mir ist eisig. Die Zahl ist keine tote Zahl für mich. Ich weiß, wovon er spricht. Im Haus meiner Eltern, einem neunstöckigen Gebäude mitten in Gomel, ist fast auf jeder Etage jemand an Krebs gestorben. Als ich im vergangenen August meine Eltern in Gomel besuchte, erfuhr ich, dass unser Nachbar, der neunzehnjährige Slavik, an Leukämie gestorben war. Slavik, mit dem ich einen Sommer zuvor noch geplaudert hatte.
Einmal im Monat bekamen wir, die Menschen im Gomeler Gebiet, einen Zuschuss dafür, dass wir in der hoch verstrahlten Region lebten. Dieses Geld bezeichnete man im Volk „grobowyje“, zu deutsch Grabgeld. Früher hatte Mutter befürchtet, dass meine Schwester und ich keinen Ehemann finden würden, weil unsere Mitgift so klein war; von nun an sorgte sie sich ernsthaft darum, keiner würde uns heiraten, weil wir Tschernobyl-Kinder seien: „Tschernobylzy“.
So wuchsen wir auf und versuchten nicht daran zu denken, wie viel Cäsium 137 wir in den Knochen trugen, wie viele von uns starben. Nicht daran zu denken, dass die Strahlung, die unsere Kindheit und unsere Heimat vergiftete, allgegenwärtig war. (© ORNIS/Nadeschda Lazko, 25. April 2006)
Nadeschda Lazko wurde am 1.April 1975 im weißrussischen Gomel geboren. Sie studierte Jura und Geschichte in Weißrussland und wechselte 1998 als Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung an die Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seit 2002 arbeitet sie als selbstständige Business Trainerin in Bayern.
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