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Bücher sind hier buchstäblich allgegenwärtig. Sie liegen, stehen, stapeln sich überall. Im Vorraum provisorisch in Pappkartons, zu Paketen verschnürt, im Arbeitssaal auf Schreibtischen und Stühlen, sortiert nach Themen, Autoren, Ausgabejahren. Viele Titel der betagten Einbände sind kaum noch lesbar, ihr Alter und ein offensichtlich bewegtes Schicksal ist ihnen anzusehen. Es riecht dumpf nach Papier in dem fensterlosen Raum, dessen Wände übermannshohen Regalen gehören: eines für Kant, gegenüber Königsberger Geschichte, flankiert von historischen Wissenschaftswälzern, Lexika, Chroniken. Auf einem Schreibtisch mitten im Raum steht zwischen Stapeln ostpreußischer Messtischblätter ein Computer, an dem eine junge Frau, dem Studentenalter noch nicht lange entwachsen, gerade die „Mitteilungen des K. und K. Kriegsarchivs 1903, Band 8“ katalogisiert. Eine Sisyphusarbeit. Aus vielen Büchern lugen weiße Karteikartenstreifen mit Registernummern.
„Insgesamt stehen hier etwa 5000 Bände“, sagt Wadim Kurpakow, „aber das ist erst ein Anfang. Wir könnten schon beim Fünf- bis Sechsfachen sein. Viele alte Königsberger Bücher liegen in Moskau, und die Bibliotheken sind auch bereit, sie wieder abzugeben. Ein Problem ist der Transport, der ist teuer und umständlich.“ Zentnerweise hat Literaturfahnder Kurpakow die Königsberger Bücherschätze schon aufgespürt. „Allein in der Moskauer Staatsbibliothek lagern 12.000 Bände, darunter eine sehr wertvolle Sammlung zur europäischen Geschichte.“
Sie stammt aus der Universität Königsberg. Und dorthin soll sie nun zurückkehren. Zu jenen Raritäten, die Kaliningrads wieder entstehende Bibliotheca Albertina schon heute besitzt. Einer Familienbibel aus dem 17. Jahrhundert etwa. Oder dutzende juristische, philosophische, theologische Traktate. Kostbarstes Stück ist ein 1521 herausgegebenes Werk des Reformators Melanchthon.
Als Beutebücher verfrachtet
Königsberg und seine Bücher. Die „Stadt der reinen Vernunft“ war für ihre Bibliotheken bekannt, die Wallenrodt-Sammlung im Dom und die universitäre Albertina-Bibliothek zogen Gelehrte aus ganz Europa an. Bis 1945. Doch wo blieben die gedruckten Schätze? Schon als Philosophiestudent an der Kaliningrader Universität ließ diese Frage den jungen Wadim Kurpakow nicht mehr los. Anfangs ging es vor allem um 38 verschollene Handschriften Immanuel Kants, doch bald zog sein Forschen weitere Kreise. Er schrieb einen beachteten Aufsatz über das „Schicksal der Königsberger Bücher“, untersuchte und listete akribisch auf, wohin der kostbare Fundus nach dem Krieg in weit über tausend Kisten ausgelagert worden war. Nicht nur nach Moskau. Auch in Leningrad, Minsk, Woronesch und anderen Städten landete ostpreußische Beuteliteratur.
Es blieb nicht bei der Zustandsbeschreibung. Nach dem Studium nahm Kurpakow sich der verstaubten Relikte der Kant-Bibliothek an und begann, das „Zentrum für Altdrucke und Handschriften“ aufzubauen. Das Ziel: im russischen Kaliningrad, der „Stadt mit doppeltem Boden“, eine neue universitäre Sammlung europäischer Tradition zu gründen und zugleich eine Drehscheibe der Kant-Forschung zwischen Ost und West zu sein. Lange fand sich kein Platz dafür in der Raumnot leidenden Kaliningrader Alma Mater. Kurpakow und seine Altdrucke-Vision war quasi obdachlos. Wer das weiß, versteht die Freude des 36-jährigen über das unlängst bezogene bescheidene Domizil.
Datenbank im Internet nutzbar
Das Projekt „Bibliotheca Albertina“ arbeitet in drei Richtungen. Zum einen will Kurpakow hier die bedeutendste Sammlung der Werke Immanuel Kants in Russland gründen. „Obwohl die Kant-Forschung in Kaliningrad seit fast 30 Jahren Schwerpunkt ist, war das Niveau unserer Bibliothek sehr unbefriedigend.“ Auf etwa 8500 Titel ist der Fundus inzwischen gewachsen. Kantianer aus Moskau und St. Petersburg, die an einer großen russischsprachigen Gesamtausgabe arbeiten, bemerken das mit Wohlwollen. Ein weiteres Thema widmet sich den Dokumentationen der Königsberger und Kaliningrader Geschichte. Von der gewichtigen Monografie bis zum Marco-Polo-Reiseführer sammelt, sortiert, katalogisiert Kurpakows Team hier alles, was mit der deutsch-sowjetisch-russischen Historie der Stadt zu tun hat. Einschließlich eines Digitalarchivs historischer Fotografien, das auch als Datenbank ins Internet gestellt werden soll.
Für all diese Pläne braucht das Projekt Partner. Das gilt vor allem für den dritten großen Projektbereich: die Konservierung wertvoller Altdrucke. „Viele Bücher wurden viele Jahre unsachgemäß gelagert und sind in einem fürchterlichen Zustand. Da musste dringend etwas geschehen.“ Darum wächst nun in Zusammenarbeit mit Altdruck-Spezialisten aus Marburg auch noch ein Restaurierungs-Labor, in dem künftig vielleicht auch Bestände des Gebietsarchivs gerettet werden könnten. Händeringend warten Kaliningrader Archivare, denen die alten deutschen Akten unter den Fingern zerfallen, auf eine solche Möglichkeit.
Ermöglicht wird der Aufbau der ersten Restaurierungsstelle für historische Bücher im einstigen Königsberg durch die Hamburger Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius. „Ohne die Hilfe der Zeit-Stiftung wäre die Arbeit unseres Zentrums kaum denkbar“, sagt Wadim Kurpakow. Auch seine eigene Laufbahn nicht. Als begabter Philosophie-Student gehörte er zu den ersten Kant-Stipendiaten der renommierten Stiftung. (© ORNIS/ Thoralf Plath, 20. April 2006)
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