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Stuttgart, im April 2012 – Lina und Hans Heinrichs haben in Deutschland Wurzeln geschlagen. So tief, dass sie sich nicht vorstellen konnten, noch einmal die Stationen ihres Lebens in der Ukraine und Kasachstan zu besuchen. Für die dreiteilige Fernsehdokumentation „Der Weg meiner Familie“ hat Ulla Lachauer den Weg der „Heinrichs aus Kasachstan“ nachgezeichnet. Nina Paulsen hat mit der Filmemacherin gesprochen.
Ornis: An welche Schauplätze hat Sie das Schicksal der Familie Heinrich geführt?
Ulla Lachauer: Die Odyssee der Familie Heinrichs geht von Westpreußen an den Dnepr, von dort während des Krieges nach Deutschland, 1945 in die Gegend von Kostroma - beziehungsweise Tomsk -, schließlich nach Südkasachstan in das Städtchen Dshambul. Auf dem Umweg über Litauen sind sie 1978 nach Deutschland ausgereist. Wir konnten nicht alle Stationen besuchen, wir haben nur an drei markanten Orten gefilmt, in den ehemaligen mennonitischen Kolonien am Dnjepr, in Vilnius und in Dshambul, wo ich zuvor noch nie war. Dieser Süden Kasachstans, im heißen Juli - die Landschaft, die Bazare - hat mich sehr fasziniert.
Wie gehen die Heinrichs damit um, dass sie ja eine Vielzahl von Heimaten hatten, die sie teils freiwillig, teils gezwungenermaßen verließen?
Für die Heinrichs gibt es heute nur eine Heimat, und die ist hier in Detmold. Sie wollten auch partout nicht mit unserem Filmteam in die Länder der ehemaligen Sowjetunion reisen; das sei vorbei, ganz und gar erledigt. Doch ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass die jetzt Heranwachsenden eines Tages Lust verspüren, nach Dshambul, Kostroma oder an den Dnepr zu reisen. Jeder geht eben eigene Wege, und ich habe gelernt, dass es viele mögliche Weisen gibt, zu trauern, sich neu zu orientieren, Lehren zu ziehen.
In Ihrem Film stellen Sie die Lebenslust der Heinrichs heraus.
Lebenslust ist etwas Ursprüngliches, Natürliches, aber in diesen Familien hat sie viel mit der Erfahrung des Überlebens zu tun. Lebenslust ist eng verbunden mit Verlusten, der dunklen Rückseite, die man selten zeigt, Fremden schon gar nicht. Und mit dem zähen Willen, sich wieder hochzurappeln, selbst etwas auf die Beine zu stellen, eine Familie zu gründen, diese zusammen zu halten. Die Heinrichs haben mit drei Generationen ein erfolgreiches, im weiten Umkreis beliebtes Autohaus aufgebaut. Das ist eine gewaltige Leistung, und obwohl es nicht immer einfach ist, miteinander zu leben, halten sie zusammen wie Pech und Schwefel.
Bei den Heinrichs spielt der Glaube eine wichtige Rolle. Sie gehören verschiedenen mennonitischen oder baptistischen Gemeinden an, die Kinder werden im Glauben erzogen, aber eher liberal, es darf auch gezweifelt werden.
Lina Heinrichs Elternhaus in Dschambul (Foto: Ulla Lachauer)
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Welches Bild der Russlanddeutschen möchten Sie den Zuschauern mit einer derartigen Familiengeschichte vermitteln?
Ich möchte etwas weitergeben, was ich selbst gelernt habe. Zum Beispiel, dass es d i e Russlanddeutschen nicht gibt, sondern eine ungewöhnliche Vielzahl von Herkünften, Verhaltensweisen in der Sowjetzeit, Ausreisemotiven etcetera. Warum sie zu uns gehören, obwohl sie fast 200 Jahre in russischen Kontexten gelebt haben und viele die Sprache und Kultur ihrer deutschen Vorfahren verloren haben. Es geht darum, sich ganz konkret vorzustellen, was den Deutschen dort in der Stalin-Zeit widerfahren ist.
Unser hiesiger Geschichtsdiskurs kreist ja um Hitler, da fehlt es einfach an Grundkenntnissen, an Verständnis für das Leben unter dieser östlichen Diktatur, den Alltag zum Beispiel in einem Kolchos. Und natürlich sind solche Defizite nicht von heute auf morgen zu bewältigen, das ist eine Riesenherausforderung, das dauert, man braucht viel Geduld – meine Bücher und Filme sind auch ein Plädoyer für die Geduld.
Lina Heinrichs Großmutter starb kurz vor ihrer Ausreise nach Deutschland (Foto: Ulla Lachauer)
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Russlanddeutsche leben häufig in einem Zwiespalt, was ihr Selbstbild angeht.
Natürlich ist, wer lange in Russland und Mittelasien gelebt hat, davon geprägt, vom Klima, der Sprache, Freundschaften, das kann man sich nicht einfach aus dem Herzen reißen. Und warum auch? Inzwischen haben wir in Deutschland so viele Migranten; Menschen, die in zwei oder mehr Kulturen leben, sind sehr zahlreich heute. Bei den Russlanddeutschen gibt es verschiedene Strategien, damit umzugehen.
Die Heinrichs in Detmold etwa haben sehr rigoros alles Russische abgelegt, sie wollen damit nichts mehr zu tun haben. Während für meine Freundin Rita Pauls, die mit 19 Jahren aus Karaganda ausreiste, beide Kulturen wichtig sind und bleiben, sie sieht darin, glaube ich, keinen Konflikt, sondern einen Reichtum.
Bei den Recherchen für Ihren Film haben Sie die Erfahrung gemacht, dass Russlanddeutsche die Vergangenheit häufig lieber ruhen lassen als davon zu erzählen. Wie sind Sie damit umgegangen?
Viele Ältere haben ein Trauma aus der Sowjetzeit; darüber zu sprechen, ist schwer. Vor allem in der Phase der Existenzgründung gibt es so viel Praktisches zu tun, so viel zu lernen, da tritt die Vergangenheit zurück. Aber irgendwann bricht sie auf, da brauchen die Betreffenden jemanden, der da ist, manchmal auch Therapie. Eine Fremde wie ich kann dabei hilfreich sein. Das Wichtigste, finde ich, ist das Zuhören, das lange und geruhsame Zuhören.
Lina Heinrichs mit ihren Eltern in der Verbannung bei Kostroma im Jahr 1950
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Mit Ihrem Film zeigen Sie auch, dass die Integration der Zugewanderten Zeit braucht. Welche Anforderungen stellen Sie in dieser Beziehung an die Aufnahmegesellschaft?
Sie sollte sich möglichst offen und tolerant und zugleich unsentimental in dem Sinne verhalten, dass sie die Landsleute aus Russland als Bürger mit allen Rechten und Pflichten behandelt. Ohne deutsche Sprache geht nichts, Bildung ist wichtig, wenn man vorankommen will; wer gegen Gesetze verstößt, wird bestraft.
Ich erinnere mich, dass in den 1990er Jahren in der Polizeistatistik das Delikt „Fischwilderei“ enorm zunahm – das waren russlanddeutsche Jungen und Männer, die nicht wussten oder einsehen wollten, dass man hierzulande einen Angelschein braucht, anders als in der Taiga oder den weiten Steppen, die sie gewohnt waren. Eine kleine Geschichte, die für die vielen Verständigungsprobleme steht.
In meinen Gesprächen bin ich immer wieder auf bestimmte Tabus gestoßen, eines betrifft die Sowjetzeit. Es fällt vielen Rußlanddeutschen schwer zuzugeben, wie sehr sie auch Sowjetmenschen gewesen sind, geprägt von Komsomol, Propaganda, Mangelwirtschaft – dafür schämen sie sich, dafür glauben sie, kein Verständnis erwarten zu dürfen.
Aber auch das gehört eben zu einem wahrhaftigen Bild von sich selbst und dem Reden davon. Und es gibt ja nicht nur Opfer, unter den Rußlanddeutschen sind auch Übeltäter. Ich kenne viele Geschichten aus dem Kolchos, dass Vorgesetzte sich die Not von Frauen zunutze gemacht haben, die kein Brot für ihre Kinder hatten. Da gibt es alles von der sexuellen Nötigung bis zur Vergewaltigung. Unsere hiesige Justiz kann das im Nachhinein kaum verfolgen, aber es bleibt als Belastung im Leben der Familien, der Opfer wie der Täter.
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Ulla Lachauer stammt aus Ahlen in Nordrhein-Westfalen. Sie studierte Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft in Gießen und Berlin. Seit 2008 lebt sie in Stuttgart. Lachauer arbeitet als Buchautorin und Filmemacherin. Im diesem Jahr erhielt sie den Barbara-Künkelin-Preis, der Frauen auszeichnet, die durch soziale Verantwortung oder persönlichen Mut hervortraten. (Foto: Stephanie Schweigert, Rowohlt Verlag)
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