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Archangelsk, im Januar 2010 – Weil der Fall um den Historiker Michail Suprun aus Archangelsk im In- und Ausland für heftige Reaktionen gesorgt habe, will die zuständige Staatsanwaltschaft die Akten an die nächsthöhere Instanz in St. Petersburg abgegeben haben. Suprun, Wissenschaftler an der Pomorischen Staatsuniversität in Archangelsk, hat gemeinsam mit dem Leiter des Informationszentrums der örtlichen Verwaltung, Oberst Alexander Dudarjew, an einem Gedenkbuch zur Erinnerung an deportierte Russlanddeutsche in der Region gearbeitet.
Die weitere Forschungsarbeit war im September von Mitarbeitern des russischen Geheimdienstes vereitelt worden, als sie nahezu sämtliche Unterlagen konfiszierten und Suprun mit einer Anklage drohten. Eine Klageschrift gibt es immer noch nicht, so dass der Beschuldigte im ORNIS-Interview feststellt, der Grund für das Vorgehen der Behörden sei ihm immer noch unklar.
ORNIS: Wie geht es Ihnen derzeit?
Michail Suprun: Noch lässt man mich arbeiten. Aber an der historischen Fakultät sind alle verhört worden. Die Lehrkräfte und Studenten sind ziemlich genervt. Die Untersuchungsbeamten stellen allerlei Fragen, auch zu meinem Privatleben, um möglichst irgend etwas Kompromittierendes zu finden. Ich kann derzeit keine vollwertige Arbeit leisten, weil das gesamte Material, das mit meiner Tätigkeit am Lehrstuhl zu tun hat, beschlagnahmt ist.
Mein Sohn konnte aus demselben Grund nicht seine Diplomarbeit verteidigen. Auch er wird immer wieder vorgeladen. All das übt einen enormen psychischen Druck aus. Ich selbst mache keine Aussagen. Das Gesetz lässt das zu. Ich möchte vermeiden, dass man Äußerungen von mir gegen Personen verwendet, die in dieser Angelegenheit als Zeugen auftreten. Für mich ist das Ganze ein politischer Fall.
Michail Suprun
Foto: privat |
Klare Vertragslage
Ist der Vertrag zu dem Gedenkbuches vielleicht fehlerhaft, wie einige Quellen behaupten?
Das glaube ich nicht. Sämtliche juristischen Feinheiten wurden eingehend geprüft. Der erste Vertrag über die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem inzwischen verstorbenen Rektor der Pomorischen Staatsuniversität, Wladimir Bulatow, und dem damals amtierenden Leiter der Abteilung Inneres wurde im Januar 2007 geschlossen.
Dieser Vertrag ermöglichte Studenten und Lehrkräften der historischen Fakultät, im Archiv der Abteilung Inneres zu arbeiten. Mitarbeiter der Miliz hatten uns schon des Öfteren um Hilfe bei der Arbeit an Gedenkbüchern für Griechen, Polen oder entkulakisierte Bürger der Sowjetunion gebeten, die man in den Hohen Norden verbannt hatte.
Auf der Grundlage dieses Vertrags wurde im Frühjahr 2007 eine Vereinbarung zur Arbeit an einem Gedenkbuch für verfolgte Russlanddeutsche getroffen. Diese Vereinbarung hatte das Deutsch-Russische Haus in Archangelsk angeregt. Da die Person, die die Arbeiten dort leitete, bald darauf nach Deutschland emigrierte, wurde die Vereinbarung der Pomorischen Universität übergeben.
Unterzeichnet wurde diese Vereinbarung von einem Vertreter des Deutschen Roten Kreuzes, vom damaligen Rektor der Pomorischen Staatsuniversiät, Waldimir Bulatow und vom Leiter des Informationszentrums der Abteilung Innere Angelegenheiten des Gebiets Archangelsk, Alexander Dudarjew.
Dudarjew unterschrieb allerdings nicht als gleichberechtigter Partner, denn hier musste der Leiter der Abteilung Inneres selbst unterzeichnen. Dudarjew schrieb nur „einverstanden“ darunter.
Erste Ergebnisse
War von Anfang an vorgesehen, Material über verfolgte Russlanddeutschen und deutsche Kriegsgefangene an Deutschland weiterzugeben?
Natürlich, denn das Deutsche Rote Kreuz und die Angehörigen der Verfolgten sind sehr daran interessiert, etwas über ihre Verwandten zu erfahren. Der erste Abschnitt des Projekts sah vor, dass wir sogenannte Biogramme der Verfolgten erstellen. An jedes Biogramm wurden zwei Seiten des Fragebogens mit persönlichen Daten geheftet sowie die letzte Seite aus der Personalakte mit dem Vermerk über eine erfolgte Amnestie.
Diese Daten wurden dann in ein Programm eingegeben, um sie für die Analyse des gesamten Materials verwerten zu können: Wie viele Menschen wurden in diesem oder jenem Rayon verurteilt, gegliedert nach Alter oder sozialem Status usw. Die Arbeitsergebnisse wurden dann aufbereitet, um sie in Seminaren und auf Konferenzen vorzustellen oder in Sammelbänden zu veröffentlichen.
Und erst auf der letzten Etappe wurde auch der Vorschlag gemacht, ein Gedenkbuch zu veröffentlichen. Unser Partner in Deutschland ist der Vorsitzende des Historischen Forschungsvereins der Deutschen aus Russland, Dr. Anton Bosch. Die deutsche Seite wollte schnelle Ergebnisse, und wir haben es geschafft, ihnen zweitausend Biogramme zu übergeben. Die übrigen sechstausend haben die Untersuchungsbeamten der Staatsanwaltschaft zusammen mit den Computern beschlagnahmt.
Erinnerung an den Gulag
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Paradoxe Lage
Nach Ansicht einiger Juristen hätten Sie die Erlaubnis der Nachfahren jener Personen einholen müssen, deren Daten veröffentlicht werden sollten.
Die Akte meines Onkels Michail Romanow, eines bekannten Heimatforschers, wurde in dem dreibändigen Werk „Pomorisches Gedenkbuch“ veröffentlicht. Dessen verantwortlicher Redakteur war der heutige Vorsitzende des Untersuchungsausschusses der Archangelsker Gebietsstaatsanwaltschaft, Jurij Sperling. An diesem Gedenkbuch hat auch der Geheimdienst des Gebiets Archangelsk mitgearbeitet.
Was wäre, wenn ich jetzt einen Brief schriebe, um mitzuteilen, dass ich mit der Veröffentlichung des Namens meines Onkels in jenem Gedenkbuch nicht einverstanden bin? Es geht immerhin um persönliche Daten meiner Familie … Natürlich werde ich das nicht tun.
Daran sehen Sie, wie paradox die Situation ist. Das Gesetz definiert nicht, was schützenswerte persönliche oder familiäre Daten sind. Wird das Gesetz so ausgelegt, wie es die Untersuchungsrichter in meinem Fall tun, dann müssten sämtliche Historiker und Journalisten zur Verantwortung gezogen werden, die Material für Enzyklopädien oder biografische Wörterbücher gesammelt haben.
Es gibt in Russland nur eine Handvoll Juristen, die sich auf Privat- und Familienrecht spezialisiert haben. Einer von ihnen ist der Rechtsanwalt Iwan Pawlow aus St. Petersburg. Er hat meinen Fall als „Quatsch“ bezeichnet. Die Daten, die wir gesammelt haben, können nicht als privat oder persönlich eingestuft werden. Trotzdem hat sich eine Person beschwert, ihr Recht auf Privatsphäre sei verletzt worden.
Politische Motive
Auch das wäre überhaupt kein Problem, wir könnten ohne Weiteres die Namen seiner Verwandten aus den Listen streichen, umso leichter, als das Gedenkbuch ja überhaupt noch nicht existiert. Es gibt also überhaupt keinen Grund für ein Strafverfahren.
Warum dann diese Aufregung? Was glauben Sie?
Ich weiß nicht, warum man sich hier so engagiert. Ich kann nur vermuten, dass das mit meiner wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Arbeit zusammenhängt. Ich schreibe, was ich denke. Wenn ich mich selbst zensieren würde, müsste ich mich für das, was ich schreibe, schämen.
1999 habe ich einmalige Dokumente aus den USA mitgebracht: ein Tagebuch Molotows, Aufzeichnungen von Gesprächen zwischen Molotow und Hitler, die Jahresberichte Andropows an Breschnew und Dokumente über die Stationierung deutscher U-Boote in Murmansk. Über eines dieser Themen habe ich 2002 einen Artikel in Norwegen veröffentlicht. Die übrigen Dokumente habe ich nicht veröffentlicht. Die Informationen sind aber offensichtlich doch an die entsprechenden Stellen durchgesickert.
Die Dokumente haben Sie vor fast zehn Jahren mitgebracht und veröffentlicht. Warum hat es dann nicht schon früher Reaktionen darauf gegeben?
Vielleicht spielt hier die Gründung der Kommission „Gegen Versuche zur Fälschung der Geschichte zum Schaden der Interessen Russlands“ eine Rolle. Das Signal, das hier vom russischen Präsidenten ausging, wurde in einigen russischen Regionen wahrscheinlich als Aufforderung zum Handeln verstanden.
Moderne Universität
Mein gesellschaftliches Engagement könnte auch eine Rolle spielen. Im vergangenen Jahr habe ich für das Amt des Rektors der Pomorischen Staatsuniversität kandidiert. Ich wollte diese Möglichkeit nutzen und mich dafür einsetzen, dass die Universität internationalen Standards angepasst wird. Ich habe hier bestimmte Vorstellungen. Das, was ich bereits vor zehn Jahren an Veränderungen vorgeschlagen hatte, wird erst jetzt allmählich umgesetzt.
Im Westen werden beispielsweise 70 bis 80 Prozent der wissenschaftlichen Forschungen aus Fördermitteln finanziert. In Archangelsk haben wir es noch nicht geschafft, so zu arbeiten. Erst kürzlich haben wir mit einem Abgeordneten der Staatsduma beschlossen, eine Gesetzesinitiative über das Zuwendungsprinzip bei der Finanzierung wissenschaftlicher Arbeit auf den Weg zu bringen.
Der 65. Jahrestag des Kriegsendes steht bevor. Werden Sie sich dazu publizistisch äußern? Immerhin sind Sie ein anerkannter Fachmann auf diesem Gebiet.
Gott bewahre! Ich werden überhaupt nichts schreiben. Allerdings ist ein großes Buch zur Geschichte Archangelsks während des Krieges zur Hälfte fertiggestellt. Ich gehe mal davon aus, dass russische Historiker aus diesem Anlass äußerst vorsichtig formulierte Aufsätze verfassen werden. Gedenkbücher kann man wohl vergessen. Welches Archiv einer Verwaltung Innere Angelegenheiten gewährt denn nach meinem Fall noch Wissenschaftlern Zutritt? Jeder Archivar hätte doch viel zu viel Angst vor den möglichen Folgen.
Pomorische Staatsuniversität Archangelsk
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Zukunft
Werden Sie nach Abschluss des Verfahrens Archengelsk wissenschaftlich verbunden bleiben?
Ich möchte nicht aus Archangelsk weggehen, obwohl ich Angebote von der Staatsuniversität St. Petersburg, von der Akademie der Wissenschaften und auch von verschiedenen anderen Universitäten in Europa und den USA habe. Vom Universitätsbetrieb in Moskau allerdings halte ich mich bewusst fern. Dort hat man noch weniger schöpferische Freiheiten.
In Archangelsk fühle ich mich freier. Hier kann ich internationale Foren organisieren und veröffentlichen, was ich für wichtig halte. Bis zuletzt hat niemand Druck auf mich ausgeübt. Darüber hinaus habe ich natürlich auch persönliche Bindungen an die Stadt. Mein Vorname ist Michail, mein Vatersname ist von Nikolaj abgeleitet: Michail und Nikolaj sind die wichtigsten Heiligen hier im Norden. Die Klöster in der Urizkaja-Straße in Archangelsk haben schon immer eine große Anziehungskraft auf mich ausgeübt.
Ich bin sehr gern hierher in diese Region gekommen. Ein Bekannter hat einmal gesagt, hier ist der Ort, an dem die Engel fliegen. Und – es ist mein Ort. An der historischen Fakultät arbeiten alle sehr kollegial zusammen, und wir haben hier sehr gute Studenten. Wer würde dann davon profitieren, wenn ich wegginge?
(Interview: Swetlana Kusnezowa und Irina Kornewa; Übersetzung: Norbert Krallemann)
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