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F o r t s e t z u n g

Foto: hvaldez1/stock.xchng
Olga und Tanja sind nicht die einzigen Aussiedlerinnen, die die deutsche Schule so negativ erleben. Wie meine qualitative Studie „Jugendliche Spätaussiedlerinnen. Bildungserfolg im Verborgenen“ (Marburg 2008) gezeigt hat, steht der Erfolg der jungen Mädchen in einem eklatanten Gegensatz zu ihrem Erleben der Schule. Die jungen Mädchen erleben die Institution als streng, fordernd und unerbittlich. Ihr Leiden in und an der Institution beziehen sie auf ihren Status als Spätaussiedlerinnen. Sie fühlen sich in der Schule nicht ausreichend gesehen und sind enttäuscht über mangelnde Anerkennung. Sie trauern der Schule in ihrer ehemaligen Heimat nach, selbst diejenigen, die bereits im Vorschul- oder Grundschulalter ausgereist sind.

Große Sehnsucht nach der ehemaligen Welt

Die Idealisierung des postsowjetischen Systems ist ebenso Zeichen ihrer ungestillten Sehnsucht nach Anerkennung ihrer Leistungsanstrengungen wie Ausdruck ihres Wunsches nach einem klaren, transparenten Bildungskanon. In der massiv geäußerten Kritik der deutschen Schule ist – ebenso wie in dem großen Lob der postsowjetischen Schule – eine große Sehnsucht zu spüren nach der ehemaligen Welt. Eine Sehnsucht danach, sich nicht mehr fremd zu fühlen; aber auch eine unbändige Wut darüber, es hier so schwer zu haben und in diesem undurchschaubaren System immer wieder Gefahr zu laufen, auf die Verliererseite zu geraten.

Wenn sie betonen, dass in der alten Heimat viel auswendig gelernt und gepaukt wurde, so bringen sie damit zum Ausdruck, wie sehr sie Klarheit und Übersichtlichkeit schätzen, und wie bedeutsam für sie klare Anforderungen sind. Wenn sie darüber klagen, dass sich die Lehrerinnen und Lehrer in der Oberstufe des Gymnasiums nicht für jeden einzelnen Schüler verantwortlich fühlen und gleichzeitig betonen, wie ernst die Lehrer im Herkunftsland die Förderung aller Schülerinnen und Schüler nehmen, dann lässt sich darin der Wunsch nach Förderung und Anerkennung ihrer Leistung entdecken.

Die ‚Tragik‘ von Tanja, Olga und Lydia liegt darin, dass sie die Sehnsucht nach Anerkennung ihrer Leistungen zwar deutlich verspüren, jedoch gleichzeitig ihre Herkunft verbergen. Infolgedessen können ihre besonderen Anstrengungen in der Schule nicht gesehen und nicht hervorgehoben werden. Die perfekten deutschen Schülerinnen sein zu wollen, beinhaltet auch, sich unsichtbar zu machen. In der Konsequenz bleiben den Lehrerinnen und Lehrern ihre ganz besonderen Leistungen verborgen.
Angela Schmidt-Bernhardt
So erhalten sie nicht die Honorierung ihrer Leistung, die über das Maß an Leistung ihrer Mitschülerinnen hinausgeht. Doch solange im öffentlichen Raum – und dazu zählt nicht nur der Spielplatz, sondern ebenso die Schule – ein Sichzeigen mit Diskriminierung, Ausgrenzung und Benachteiligung verbunden ist, gibt es für die jungen Frauen keine andere Möglichkeit, als einen wesentlichen Teil ihrer Identität zu verbergen. Individuell lässt sich dieses Dilemma nicht auflösen.


Es gibt auch glückliche Momente in der Schule. Olga wirkt glücklich, wenn sie von ihrem Russischgrundkurs erzählt. Viktoria lebt auf, weil sie die Möglichkeit hat, einen Leistungskurs in Russisch zu besuchen. Maria ist entspannt, wenn sie ihre Hausaufgaben in ein kleines russisches Oktavheft einträgt, ein Mitbringsel aus Russland, das dort dem Kontakt zwischen Elternhaus und Schule dient. Lydia wirkt gelöst, wenn sie vor ihrer Jahrgangsstufe von der verworrenen Geschichte ihrer Familie erzählt. Es sind die Zwischenräume, die sich der eindeutigen Zuordnung entziehen, in denen sich die Mädchen und jungen Frauen im deutschen Schulsystem wohl fühlen.

Interkulturelles Lernen: Aufgaben und Chancen der Schule

An dieser Stelle könnte die bundesdeutsche Schule viel tun. Sie könnte
- den muttersprachlichen Unterricht fördern und Grund- und Leistungskurse Russisch in der gymnasialen Oberstufe anbieten,
- die vielfältigen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler in das Unterrichtsgeschehen einbeziehen,
- interkulturelle Räume öffnen, in denen die gemeinsame Entfaltung von Kreativität möglich wird (beispielsweise durch die Verarbeitung von Migrationserfahrungen im Darstellenden Spiel),
- den jungen Menschen ein Forum für das Erzählen ihrer Lebensgeschichten bieten, um sie auf ihrem Weg der bewussten Identitätsfindung zu unterstützen.

Wenn die Schule diese Räume bieten würde, so könnten sich die Jugendlichen jenseits einer starren Zuschreibung verorten. Sie müssten nicht unter enormen Anstrengungen perfekt deutsch sein, sondern könnten russische und deutsche Anteile ihrer Identität leben und erleben. Es geht hier nicht um eine ‚moralische‘ Aufgabe, es geht um eine interkulturell bereichernde Öffnung, um den Weg von der monokulturellen zur multikulturellen Schule.

Diese Öffnung bedeutet auch, dass sich Jugendliche ohne Migrationshintergrund allmählich von der Fixierung auf die vermeintliche ‚Normalität‘ schulischer Bildungsmuster lösen und andere neue soziale und kulturelle Sichtweisen als bereichernd erfahren. Die interkulturellen Räume stehen allen offen. Ihnen sollte die bildungspolitische Debatte ihre Aufmerksamkeit schenken. Die schulische Integration und die Bewältigung der schulischen Stolpersteine könnten leichter und besser gelingen, wenn es mehr solcher kreativen Räume gäbe.

Heute hat Lydia diesen Raum bekommen. Sie kommt zum Ende ihres Berichts im Oberstufenkurs. Sie hat schnell geredet, ein bisschen gehetzt, ohne Punkt und Komma, so als müsse sie alles Erlebte in 30 Minuten unterbringen, so als böte sich ihr eine einmalige Chance, die sie unbedingt nutzen muss. Manchmal war ihre Stimme zu leise; manchmal schaute sie beim Sprechen ins Leere; manchmal überkam sie die Angst, nicht mehr weiterreden zu können. Es war die Angst vom Spielplatz, die wieder hoch kam, die Angst vor der körperlichen Überlegenheit der älteren Jungen, aber auch die Angst nicht zu wissen, wo sie hingehört und hingehören darf. 30 Minuten haben alle zugehört. Niemand hat gelacht. Lydia setzt sich wieder hin und für einen Moment sieht es so aus, als ob sie ihren Platz gefunden hat.


Literatur

Boos-Nünning, Ursula/Karakasoglu, Yasemin: Viele Welten leben. Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund, Münster 2005

Gomolla, Mechthild/Radtke, Frank-Olaf: Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, Opladen 2002

Schmidt-Bernhardt, Angela: Jugendliche Spätaussiedlerinnen. Bildungserfolg im Verborgenen, Marburg 2008

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Ihre Meinung

Marc, 05.02.2009 22:27:20:

Was ich sehr interessant finde ist, dass neben Russlanddeutschen (endlich ist das anerkannt) auch Jugendliche aus Ostasien oftmals sehr gut in der Schule abschließen. Beispielsweise haben laut einer Studie in Ostdeutschland Vietnamesen die besten Bildungsergebnisse erzielt.

Tanja, 03.02.2009 18:58:46:

Der geschichtliche Hintergrund der Russlanddeutschen u. anderer Minderheiten der GUS wird zu wenig eingebunden. Natürlich ist es gut deutsche, russische u. englische Sprachkenntnisse zu haben. Aber nicht nur,auch russlanddeutsche Dialekte können wichtig für die Identitätsbildung sein. Zudem nicht nur das Wissen über deutsche u. russische Geschichte/Kultur,sondern auch die der Russlanddeutschen.


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Angela Schmidt-Bernhardt

Zwischen Erfolg und Diskriminierung -
Jugendliche Spätaussiedlerinnen im Gymnasium

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