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"Historiker-Fall": Staatsanwalt will Verfahren einstellen

Historiker Suprun will vor Gericht weiterkämpfen

Die Staatsanwaltschaft im russischen Archangelsk hat die Rechnung wohl ohne den Wirt gemacht. Sie will das Verfahren gegen den Historiker Michail Suprun "wegen Verjährung" einstellen. Doch der Beklagte stellt sich stur. Sein Ziel ist volle Rehabilitation und die Forsetzung seines Forschungsprojekts über Russlanddeutsche. Unter anderem.

Archangelsk, im März 2011 - Die Staatsanwaltschaft in Archangelsk will das Verfahren gegen den Historiker Michail Suprun offenbar nicht weiter verfolgen und „wegen Verjährung“ einstellen. Im September 2009 waren Suprun und zwei Mitarbeiter unter dem Verdacht verhaftet worden, „Informationen mit geheimen und persönlichen Daten gesammelt und verbreitet“ zu haben. Der Wissenschaftler, Leiter des Lehrstuhls für russische Geschichte an der Pomorischen Lomonossow-Universität Archangelsk, arbeitete an einem Erinnerungsbuch zum Thema „Repression der in den 1940er Jahren betroffenen Russlanddeutschen“.

Universität Archangelsk

Zu diesem Zweck hatte er bereits mehrere tausend Datensätze zu Opfern der Verfolgung zusammengestellt. Das Projekt wurde vom Deutschen Roten Kreuz in Zusammenarbeit mit dem Historischen Forschungsverein der Deutschen aus Russland in Nürnberg unterstützt.

Mitarbeiter des russischen Sicherheitsdienstes FSB  durchsuchten damals  Wohnungen und Arbeitsplätze der Festgenommenen. Das gesamte Archiv Supruns, sämtliche Computer und Datenträger wurden beschlagnahmt.

Suprun ist allerdings nicht bereit, einer Beendigung des Verfahrens zuzustimmen, solange nicht ausdrücklich die Rechtmäßigkeit seiner wissenschaftlichen Arbeit festgestellt wird. Außerdem will er das begonnene Projekt fortsetzen und zum Abschluss bringen. Svetlana Kuznetsova hat für Ornis mit  Michail Suprun gesprochen:

Michail Suprun

Ornis: Herr Suprun, warum lassen Sie die Sache jetzt nicht auf sich beruhen? Länger als ein Jahr haben Sie Verfolgung erlitten. Nun könnte doch wieder Ruhe einkehren.

Michail Suprun: Wenn man das Angebot der Staatsanwaltschaft akzeptiert, dann kann man Paragraph 137 des Strafgesetzbuches (gesetzwidriges Sammeln oder Verbreiten von Information über Privatpersonen) auch anwenden auf Historiker, auf Journalisten, selbst auf Menschen, die etwa in Kliniken Patientendaten erfassen oder x-beliebige andere. Und zwar deshalb, weil der Begriff des Privat- oder Familiengeheimnisses weder im Paragraph 137 noch in der Verfassung Russlands definiert ist.

Daraus folgt die absurde Situation, dass man an unterschiedliche Leute unterschiedliche Anforderungen stellen kann – die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft dürfen etwa ein Erinnerungsbuch schreiben und ich als professioneller Historiker darf es nicht.

Denkmal für die Opfer der Repression in Archangelsk

In Russland gibt es nur wenige Fachleute für Privat- und Familienrecht. Einer von ihnen ist Iwan Pawlow, Rechtsanwalt und Menschenrechtsaktivist aus St. Petersburg. Er vertritt die Ansicht, dass die Schutzwürdigkeit persönlicher oder auf die Familie bezogener Daten nur in äußerst seltenen Fällen gegeben ist, etwa bei einer Geschlechtsumwandlung, bei Adoption oder bestimmten Krankheiten. Das ist aber auch alles! Das Sammeln von Daten über Menschen, die Repressionen erlitten haben, ist davon unberührt.

Ornis: Was ist Ihr Ziel?

Suprun: Wir meinen, dass der Paragraph 137 des Strafgesetzbuches überprüft werden muss. Und es muss klar definiert werden, was genau auf die Liste von Privat- und Familiengeheimnissen gehört. Mein Anwalt Iwan Pavlov hat deshalb Beschwerde beim Verfassungsgericht eingelegt.

Zusätzlich haben wir Beschwerde beim Obersten Gerichtshof eingelegt: Wir  fordern die Rücknahme des Erlasses vom 25. Juli 2006 durch FSB und  Kulturministerium, der Wissenschaftlern den Zugang zu Archivmaterialien erschwert. Dieser Erlass war seinerzeit bereits juristisch angefochten worden. Aber das Justizministerium blieb untätig. Deshalb wollen wir die Angelegenheit jetzt geklärt sehen.

Ornis: Was haben Sie in eigener Sache noch unternommen?

Suprun: Von Seiten der Staatsanwaltschaft ist meinem Anwalt zum wiederholten Mal Akteneinsicht verwehrt worden. Und deshalb haben wir in St. Petersburg Beschwerde eingelegt. Im Moment warten wir darauf, dass die jeweils zuständigen Gerichte antworten. Wir haben uns auch in einem Brief an Präsident Dmitri Medwedew gewandt mit der Bitte, eine juristische Prüfung  der Strafsache zu veranlassen, die bereits den Beinamen „Historiker-Fall“ bekommen hat.

Neben all den juristischen Fragen spielen aber auch finanzielle Aspekte eine Rolle …

mehr zum Fall Suprun bei Ornis: hier

 

Ornis: … die Rückgabe von Geldern an das Deutsche Rote Kreuz?

Suprun: Vom Deutschen Roten Kreuz haben wir für die erste Phase unserer Forschung siebentausend Euro erhalten. Wir haben achttausend Datensätze erstellt.  Das war mehr, als eigentlich geplant war. Wir konnten dem Roten Kreuz allerdings nur zweitausend Datensätze übermitteln, weil die übrigen mit unseren Computern beschlagnahmt worden waren.

Von den siebentausend Euro, die wir im Jahr 2007 erhalten haben, hat der Staat über die Universität 43 Prozent an Steuern einbehalten. Gemäß den gesetzlichen Vorgaben wurden die Euro in Rubel umgewandelt. Damals betrug der Wechselkurs 34 Rubel, so dass wir zudem fast hunderttausend Rubel einbüßten. Wenn ich jetzt der Einstellung des Verfahrens wegen Verjährung, wie es heißt, zustimmen würde, dann wären wir verpflichtet, das ganze Geld in Euro an das Deutsche Rote Kreuz zurückzuzahlen.

Darüber hinaus hat meine Universität aus Deutschland im Rahmen des Vertrages insgesamt fast fünftausend Euro für den Kauf von Computern und Büromaschinen erhalten. Diese Geräte sind auch angeschafft worden. Das müsste nun alles zurückgegeben werden, und der Staat verlöre viel Geld.

Ornis: Sie wollen also den Fall vor Gericht weiter austragen. Eine Einstellung des Verfahrens kommt für Sie nicht in Frage?

Suprun: Solche Skandale schaden doch nur dem Bild Russlands im Ausland. Ich bin deshalb durchaus der Meinung, dass die Sache eingestellt werden sollte, allerdings nicht wegen angeblicher Verjährung, sondern wegen erwiesener Unschuld. Außerdem muss das Projekt fortgesetzt werden – meinetwegen notfalls auch unter strenger Aufsicht der Behörden. Kann das nicht erreicht werden, muss der Fall eben vor Gericht gehen.

Ornis: Unser letztes Gespräch liegt fast ein Jahr zurück. Damals machten Sie einen sehr angespannten Eindruck, die Sache schien Sie sehr zu belasten. Jetzt strahlen Sie eine viel größere Sicherheit und Zuversicht aus.

Suprun: Und gerade jetzt beginnt die angespannteste Etappe, in der sich der Ausgang der Angelegenheit entscheiden wird. Mir ist völlig klar, dass die Behörden noch zu diversen juristischen Machenschaften imstande sind. (Svetlana Kuznetsova, Archangelsk)

 
Links zum Thema
- Memorial: Die Archive de Sowjetepoche müssen geöffnet werden
 
Ihre Meinung

Tanja, 25.03.2011 22:08:52:

Ich halte Herrn Suprun nicht fur "stur", sondern fur mutig und korrekt handelnd. Herr Suprun ist ein Vorbild fur Menschen, die wirklich transparent und demokratisch leben mochten.


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Zitat

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„Die Gesellschaft darf nicht von Mythen leben, sie muss die Wahrheit wissen.“

Michail Fedotow, Präsidentenberater und Vorsitzender des Rates für Menschenrechte, zur Debatte um die Öffnung der Archive in Russland

Ornis-Dossier

Der Fall Michail Suprun

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Zum Fall des Historikers Michail Suprun hat Ornis ein umfangreiches Dossier angelegt.