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F o r t s e t z u n g: Endlich was Großes erleben
Doch, für Lena Schmidt sind das zwei verschiedene Dinge. So viel weniger Freiheit als in Sibirien!
Eine einzige Ampel gab es in der 34.000-Einwohner-Stadt Slawgorod. Sonst nur breite Straßen, sehr breite Straßen - da ist sie geradelt, immer geradeaus. Durch die Kulunda-Steppe, entlang riesiger Felder und Birkenwälder. Frei hat sie sich da gefühlt. "Hier ist alles so eng! Man kann sich nicht austoben, mal laut sein." In Deutschland ist sie noch nie Rad gefahren, aus Angst, wo anzustoßen. Außerdem verirrt sie sich ständig, so schräg, wie die Straßen angelegt sind. Und dann der ganze Papierkram, "immer Briefe!"
Erinnerungen
So wie sie sich nach Deutschland geträumt hatte, träumt sich Lena nun manchmal nach Sibirien zurück. Da lag sie doch jüngst am Strand auf Mallorca, zusammen mit der gleichaltrigen Nichte Nadja, und plötzlich erinnerten sich die beiden an die Sommer in Sibirien: wie sie sich hinterm Haus gesonnt hatten, auf der kleinen Wiese zwischen Misthaufen und Kartoffelacker; wie sie Johannisbeeren gezupft und gezuckert hatten und mit dem Schälchen in den Ahornbaum geklettert waren; wie ihnen der staubige Steppenwind durch die Haare fuhr und sie verwirbelte.
Erst die Gerüche! Der angenehme von frisch gemolkener Milch; der eklige der toten Hühner, die mit heißem Wasser übergossen wurden, damit man sie besser rupfen konnte; der spezielle nach Schweiß in den immer überfüllten Bussen; das Dampfen im Banja, dem russischen Badehaus aus Holz, wo sie sich samstags neben dem großen Ofen mit Wasser übergoss.
Und die Geräusche: morgens das Krähen der Hähne von überall her; wie sie in ein heimeliges Holzknacken hinein erwacht ist, wenn die Eltern im Winter schon früh den Ofen heizten; das Plaudern von den Bänken vor den Häusern - irgendwer war immer auf der Straße.
"Die Menschen sind auch einfacher. Wenn man ins Kino fahren will, geht man zum Nachbarn und leiht sich sein Auto." Und dann die Gastfreundschaft! "Man wird vollgestopft", seufzt Lena wohlig. Ihr deutscher Freund Marco hingegen sagt: Das heißt doch Teeeinladung und nicht Halbes-Schwein-Aufessen!
"Jetzt bin ich hier ...
Marco übrigens ist der Hauptgewinn. Auf dem Berufskolleg haben sie sich kennengelernt, jetzt wohnen sie zusammen, in Paderborn. Dort arbeitet Marco in einem Heim mit schwer erziehbaren Jugendlichen. Bei aller Liebe, manchmal verstehen sie einander nicht. "Ich kann nicht verstehen", sagt Lena, "dass er so wenig Kontakt zu seinen Eltern hat.
Wenn man sich in seiner eigenen Familie nicht wohlfühlt, wo soll man sich dann wohlfühlen?" Und Marco versteht nicht, was ihr die Verwandten bedeuten: "Wieso müssen wir am Wochenende auch noch hinfahren, wo du doch gestern erst lang mit ihnen telefoniert hast!"
Früher war ihr Leben einfacher, meint Lena, und selbstverständlicher. Vielleicht weil es das Leben einer Jugendlichen war? Auch, vielleicht, meint Lena. Aber vor allem, weil es das Leben in Sibirien war und damit ein Leben wie vor Jahrzehnten in Deutschland auf dem Land. Mit wenig Geld, ohne Medien, ortsbeständig, angewiesen auf eine kleine Gemeinschaft, mit nur wenig Wahlmöglichkeiten und damit auch wenig Entscheidungszwängen ...
Nie habe sie sich so verplant gefühlt wie heute, sagt Lena. "Terminkalender!" Sie spricht das Wort aus, wie wenn es der Name einer Seuche wäre. Dabei habe sie in Russland auch schon ganztags gearbeitet. "Und wenn man zu Besuch kommt, muss man vorher immer anrufen!" Selbst ihre eigenen Verwandten in Deutschland. Früher war klar: Der andere ist zu Hause und wühlt im Garten herum.
"Manchmal denke ich, in Deutschland bin ich ein Roboter - ich stehe auf, arbeite, gehe nach Hause... Ich träume auch nicht wie früher. Früher hab ich mir alles Mögliche vorgestellt, ich wusste ja nichts. Früher hatte ich alles noch vor mir. Jetzt bin ich hier."