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Eine kurze Bleibe

Einst bot Mölln Flüchtlingen aus Russland Zuflucht
Eine kurze Bleibe Denkmal zur Erinnerung an die in Mölln verstorbenen Russlanddeutschen
Foto: Sextant

Die Stadt Mölln in Schleswig-Holstein war für viele Monate Zufluchtsstätte für tausende Russlanddeutsche. Auf der Flucht vor der wachsenden Repression in der Sowjetunion bot die Kleinstadt eine Ruhepause, bevor die Flüchtlinge ihre Reise an Bord der Auswandererschiffe nach Nord- und Südamerika fortsetzten. Heute ist die Erinnerung an die Geschehnisse des Jahres 1930 nahezu verblasst.

Berlin, im August 2013 - Die Häfen Südamerikas waren der Monte Olivia nicht fremd. Seit ihrer Jungfernfahrt im April 1925 transportierte sie zahlungskräftige Kreuzfahrtpassagiere über den Atlantik. Jenen Reisenden allerdings, mit denen das Schiff der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschiffahrtsgesellschaft am 16. Januar 1930 den Hamburger Hafen verließ, stand der Sinn nicht nach Bordvergnügen. Mit drei Mark Taschengeld pro Familie waren die 179 Personen auf die Reise geschickt worden. Ihr Ziel: Brasilien.
Die Monte Olivia brachte die ersten Aussiedler nach Brasilien

 

Über fünftausend weitere Auswanderer sollten in den folgenden Monaten über Hamburg und Bremen ausreisen, die Mehrzahl nach Brasilien, viele nach Paraguay und Kanada, einige wenige nach Argentinien, Mexiko und in die USA. Noch wenige Jahre zuvor hatten sie ein auskömmliches Leben geführt und nicht daran gedacht, bald aus ihrer Heimat zu fliehen – aus der deutschen Wolgarepublik, aus Westsibirien, aus der Ukraine, von der Krim.

Vorbehalte in Deutschland

Tausende Russlanddeutsche hatten sich 1929 auf den Weg nach Moskau gemacht, weil ihnen die Kollektivierung der Landwirtschaft keine andere Wahl zu lassen schien, als die Sowjetunion zu verlassen. Von den Behörden erwarteten sie die Genehmigung zur Ausreise, doch längst nicht alle hatten Erfolg. Auch Deutschland als erste Station vor der Reise in die Neue Welt war kaum geneigt, die Flüchtlinge aufzunehmen – aus Sorge vor den wirtschaftlichen Belastungen, vor allem aber, um die Beziehungen zur jungen Sowjetunion nicht zu gefährden.

Nach zähen Verhandlungen und als die sowjetischen Behörden daran gingen, die Flüchtlinge zwangsweise zurück in ihre Wohnorte zu transportieren, gelangten schließlich doch noch rund 5700 Flüchtlinge, die überwiegende Mehrheit Mennoniten, nach Deutschland - vorübergehend, bis zur Weiterreise nach Übersee.


Die Stadt Mölln in Schleswig-Holstein zählte damals 6.500 Einwohner. Ihre Nähe zu den Überseehäfen Bremen und Hamburg und ein nicht mehr genutztes Kasernengebäude, die ehemalige Unteroffiziersvorschule, gaben den Ausschlag, die deutschen Flüchtlinge aus Russland hier aufzunehmen.

Die Regierung in Berlin hatte eigens einen „Reichskommissar für Deutsch-Russen-Hilfe“ eingesetzt, den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Daniel Stücklen. Unter Führung des Deutschen Roten Kreuzes wurde der Reichsausschuss „Brüder in Not“ gegründet, der für die Betreuung der Flüchtlinge zuständig war.

Der Empfang

In Mölln war man darauf eingestellt, etwa tausend Personen aufzunehmen. Überstürzt musste nahezu die gesamte Ausstattung, die zur Beherbergung der erwarteten Menschen nötig war, beschafft werden, dazu Heizmaterial und vor allem Lebensmittel. Dutzende von Eisenbahnwaggons brachten das Material aus dem Rheinland herbei. Es traf sich gut, dass das Rheinland erst kurz zuvor von französischen, britischen und belgischen Besatzungstruppen geräumt worden war und die Ausstattungen der dortigen Kasernen nun zur Verfügung standen.

Wenige Tage vor Weihnachten, am 21. Dezember 1929 traf der erste Flüchtlingstransport auf dem Bahnhof von Mölln ein. In dem Roman „Wir trotzen dem Irrlicht“, beschreibt der Schriftsteller Ernst Behrends, damals noch Lehrer an der Mittelschule in Mölln und streng deutschnational, die Ankunft der ersten Flüchtlinge:
„Dreihundert Gäste wurden erwartet, wildfremde, und am Möllner Bahnhof hing keine Girlande aus. Feuerwehrleute hatten den Platz abgesperrt, und höhere Beamte eilten geschäftig auf und ab, von freiwilligen Schwestern unterstützt. (…) Einige der Schülerinnen knicksten und einige der Schüler zogen die Mütze, wenn sie den Lehrer Franz Eggert gewahrten, der hatte vor der Feier auf die Nöte der Heimatlosen verwiesen, nun stand er neben einem der Feuerwehrmänner. ‚Guten Tag, Herr Wieghorst.‘ ‚Guten Tag, Herr Eggert.‘ ‚Die Ersten. Gut, dass sie kommen.‘ – ‚Gut, dass sie kommen‘, wiederholte der Kaufmann Wieghorst junior, ‚die Russen retten unsere U.V..‘ ‚Ja, aber es sind keine Russen, es sind Russlanddeutsche, Deutsche aus Russland.‘“
Doch längst nicht alle stimmten dem Aufenthalt der Flüchtlinge vorbehaltlos zu. Vielen war unbekannt, aus welchem Grund binnen weniger Tage weit über tausend Menschen Mölln erreichten. Arbeitsscheu seien sie wohl – das war immer noch die meist geäußerte Ansicht. Manche fürchteten, die Ankömmlinge könnten Krankheiten, gar Seuchen einschleppen. Die „Möllner Zeitung“ berichtete nahezu täglich über die Ereignisse, doch heute sind nur noch vereinzelte Exemplare erhalten, die ein genaues Bild von der Stimmungslage geben könnten.

 

Zu Beginn des Jahres 1930 lag die Zahl der Lagerbewohner bereits bei rund 1.200. Neben der organsierten Ausreise aus Russland gab es auch nicht Wenige, die sich allein auf den Weg gemacht und über Polen auf deutsches Territorium durchgeschlagen hatten. Eine Gruppe von Flüchtlingen, die so genannte Mesched-Gruppe, hatte eine Odyssee hinter sich und war über Persien und Frankreich nach Deutschland gekommen. In der persischen Provinz Astrabad gab es seit Ende des Ersten Weltkriegs Kolonien russischer und deutsch-mennonitischer Siedler.

Das gemeinsame Band

Die Spendenbereitschaft in der Bevölkerung war beeindruckend, heißt es in verschiedenen Quellen, die das Möllner Kirchenarchiv gesammelt hat. Pastor Paul Bruns von der Evangelischen Kirchengemeinde, der die Spenden für das Rote Kreuz koordinierte, unterstrich immer wieder die christliche Religion, die mit den Flüchtlingen aus dem Osten verbinde.

Und Bürgermeister Gerd Wolff hatte in seiner Begrüßungsrede zur Ankunft der ersten Gruppe die Volkszugehörigkeit der „deutschen Landsleute“ hervorgehoben und im Pathos der Zeit hinzugefügt: „Ihr habt Euch getrennt von allem, was Euch lieb war, um der Stimme des Blutes zu folgen.“

Binnen eines Jahres hatten die meisten Flüchtlinge an Bord der Auswandererschiffe die Reise über den Atlantik angetreten. 306 Aussiedler hatten sich entschlossen, in Deutschland zu bleiben und wurden auf den Gütern Suckwitz und Schossin in Mecklenburg ansässig.

 

Die Erinnerung an den Aufenthalt mehrerer tausend Deutscher aus Russland ist verblasst. Die ehemalige Unteroffiziersvorschule steht heute zum Verkauf, nachdem sie in den zurückliegenden Jahren als Weiterbildungsstätte der Bundeswehr gedient hatte. Für 22 Flüchtlinge war Mölln die letzte Station auf ihrer Reise in ein erhofftes neues Leben. Ein Denkmal auf dem Alten Friedhof der evangelischen Kirchengemeinde an der Hindenburgstraße erinnert als letztes Zeugnis an die Flucht tausender Russlanddeutscher, denen die Stadt Mölln eine kurze Bleibe bot. (Ulrich Stewen)

Um das Kurzvideo vom Denkmal in Mölln anzuschauen, geben Sie bitte ein Passwort ein: Moelln
 
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