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Das Treffen von Tomsk und die Russlanddeutschen

Kommentar von Tatjana Ilarionova, Moskau
Das Treffen von Tomsk und die Russlanddeutschen

Moskau (ORNIS) - Dass Tomsk Verhandlungsort der diesjährigen deutsch-russischen Konsultationen sein würde, war noch vor den Bundestagswahlen im vergangenen Jahr vereinbart worden. Möglich, dass dabei auch die Bedeutung der westsibirischen Stadt für die deutschstämmige Bevölkerungsgruppe Berücksichtigung fand. Seit Anfang der neunziger Jahre hat Tomsk für die Russlanddeutschen eine besondere Bedeutung - etwa wie Sankt Petersburg für die russische Bevölkerung; eine Stadt wichtiger Ereignisse und vielfältiger Aktivitäten für die Minderheit. Nach der Ausreise Hunderttausender Russlanddeutscher aus vielen Regionen Russlands blieben nämlich nur wenige Inseln mit deutschem Leben.

Als Beispiel, dass die deutsche Anwesenheit im Osten durchaus noch sichtbar ist, sei das Altaigebiet und die Region Omsk erwähnt. Dort wurden nationale Rayons der Russlanddeutschen geschaffen, die sich allerdings als wirtschaftlich und kulturell nicht besonders erfolgreich erwiesen, weil die massive Abwanderung weiterhin anhielt. Man hatte zudem versucht, Alternativen zu finden und etwa Siedlungen in den Gebieten Saratow und Uljanowsk zu schaffen. Doch nur vereinzelt fanden sich Begeisterte, die sich auf den Weg dorthin machten. Und immer wieder fiel in den Debatten um Orte russlanddeutscher Aktivitäten auch der Name der Stadt Tomsk.

Was bedeutet diese Stadt, die jetzt Gastgeberin eines bedeutenden russisch-deutschen Treffens war, für die Russlanddeutschen? Die Industriemetropole war immer eine Oase technischen Wissens, ein Ort großer Unternehmen und ein Zentrum landwirtschaftlicher Kooperativen. Nach der Deportation von Russlanddeutschen während des Zweiten Weltkriegs bot die Universitätsstadt den Begabten und Tüchtigsten eine der wenigen Möglichkeiten für eine Hochschulausbildung, für eine gute Arbeit in der Stadt oder auf dem Land. Tomsk zeigte sich als tolerante multinationale Stadt, wo ein Russlanddeutscher Karriere machen konnte.

Zum Beispiel: Seit Jahren ist der deutschstämmige Victor Kress Gouverneur des Gebietes, der Rektor der Staatlichen Universität zu Tomsk heißt Georgi Meier, zahlreiche Gebietsabgeordnete, Unternehmer und Wissenschaftler sind deutscher Abstammung. Im Tomsk wurden Anfang der neunziger Jahre der erste deutsche Kindergarten eröffnet, hier fanden die ersten Deutschkurse für Erwachsene statt. Tomsk hat in der Zeit, als Russlanddeutsche in großer Zahl das Land in Richtung Deutschland verließen, gezeigt: das gemeinsame Leben der Deutschen mit anderen ortsansässigen Bevölkerungsgruppen und Nationalitäten war die beste Arznei gegen die Panik der Ausreise. Jetzt zählt man im Gebiet immer noch rund 13.000 Russlanddeutsche. Tomsk gilt heute als drittwichtigste Region für die Deutschen in Russland.

Viele Angehörige der deutschen Minderheit hatten große Erwartungen an den Besuch der deutschen Kanzlerin geknüpft. Ein in Moskau lebender Russlanddeutscher meinte kürzlich, in Tomsk werde sich entschieden, wie es weiter gehe mit der Zusammenarbeit zu Gunsten der Russlanddeutschen. In Russland läuft in diesem Jahr das Föderale Zielprogramm für die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der Russlanddeutschen aus. Das Programm war noch von Präsident Jelzin verabschiedet worden. Eine Verlängerung scheint derzeit keine Lobby zu haben. Russlands einflussreicher Wirtschaftsminister, der Russlanddeutscher German Gref, der an den Verhandlungen in Tomsk teilgenommen hat, hat sich öffentlich zu diesem Thema nicht geäußert.

Zum Regierungswechsel Ende vergangenen Jahres in Deutschland haben sich manche Beobachter die Frage gestellt, ob Bundeskanzlerin Angela Merkel die Belange der Russlanddeutschen nachhaltig in Betracht ziehen wird. Die deutsche Unterstützung für die Aktivitäten der Russlanddeutschen war in den zurückliegenden Jahren deutlich reduziert worden. Tomsk bot eine Antwort - eine gute Antwort nicht nur für Russlanddeutsche. Frau Merkel hat dem Russisch-Deutschen Haus einen Besuch abgestattet, eine neue evangelische Kirche wurde ihrer Bestimmung übergeben – und sie hat überraschend glänzend Russisch gesprochen, was in unserem Lande stets mit großer Achtung zur Kenntnis genommen wird.


Tatjana Ilarionova ist Professorin
an der Russischen Akademie für Öffentliche Verwaltung
beim Präsidenten der Russischen Föderation in Moskau;
im vergangenen Jahr veröffentlichte sie
gemeinsam mit weiteren Autoren
eine dreibändige
„Geschichte der Deutschen in Russland“

(© ORNIS, 30. April 2006)


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