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„Wir wissen um das schwere Schicksal“

In Tomsk traf Bundeskanzlerin Angela Merkel Russlanddeutsche
„Wir wissen um das schwere Schicksal“ Bundeskanzlerin Angela Merkel im Russisch-Deutschen Haus in Tomsk
Foto: RDH-Tomsk

Berlin (ORNIS) - Am Tag zuvor herrschte noch Schneeregen und trübes Winterwetter. Indes, als Angela Merkel am 27. April am Russisch-Deutschen Haus in der Krasnoarmejskajastraße eintraf, war die Frühjahrssonne zurückgekehrt. Vorausschauend hatten die bunt gekleideten Mädchen zum Empfang die Weise „Hei, so treiben wir den Winter aus“ einstudiert. Am Schlusstag der 8. deutsch-russischen Konsultationen im westsibirischen Tomsk traf die deutsche Bundeskanzlerin mit Vertretern der russlanddeutschen Gemeinde und mit Kirchenleuten zusammen.

Es gibt Sätze, die sind kurz, klingen fast beiläufig und entfalten erst viel später ihre volle Wirkung. Einen solchen Satz könnte die Bundeskanzlerin gesagt haben, als sie zu Beginn des Treffens mit Vertretern der Russlanddeutschen knapp feststellte: „Wir wissen um das schwere Schicksal.“ Jahrzehntelang hat die Sowjetunion nicht weiter Notiz davon genommen, dass in ihrem Namen eine Bevölkerungsgruppe all ihrer Rechte beraubt worden war. Für viele kam diese Weigerung  einer erneuten Demütigung, einer zweiten Verurteilung gleich. Und auch Aussiedler in Deutschland machen selten die Erfahrung, dass sich die neue Heimat für das Gewesene interessiert. Deshalb könnten die sechs Worte der deutschen Besucherin im Russisch-Deutschen Haus in Tomsk für manche zu einem befreienden Schlüsselsatz geworden sein.

13.000 Deutschstämmige leben im Gebiet Tomsk, Nachkommen deutscher Kolonisten, vor allem aber Töchter, Söhne, Enkel und Urenkel deutscher Siedler, die vor 65 Jahren aus dem Wolgabiet und anderen Regionen Russlands gewaltsam hierher verschleppt worden waren. Die Universitätsstadt ist ein Zentrum deutsch-russischer Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen, aber auch ein Zentrum russlanddeutscher Aktivitäten. Das Russisch-Deutsche Haus unweit des Stadtzentrums bündelt die Tätigkeiten von 13 Begegnungsstätten in den Rayons und Siedlungen des Gebietes. Die imposante und reich verzierte Villa in klassischer Holzarchitektur hatte sich der Tomsker Kaufmann Golowanow in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts errichten lassen. Mitte der neunziger Jahre wurde das Gebäude aus Mitteln des Bundesinnenministeriums restauriert und später seiner jetzigen Bestimmung übergeben.

Sprach- und Kulturarbeit

Heute ist es Sitz einer Vielzahl gesellschaftlicher Verbände und Organisationen der Russlanddeutschen, der Kulturautonomie, der Gesellschaft ‚Wiedergeburt’, der Jugendorganisation ‚Jugendblick’. Sprach- und Kulturarbeit stehen im Mittelpunkt der Aktivitäten; Ziel ist, den Zusammenhalt der Russlanddeutschen in der Region zu stärken und die gemeinsame Identität zu wahren. In den vergangenen zehn Jahren haben 5500 Kinder und über 4000 Erwachsene Kurse, Seminare und Lehrgänge besucht.

„Scheuen Sie sich nicht, die deutsche Sprache lebendig zu erhalten“, ermutigte die Bundeskanzlerin die Teilnehmer des Treffens – wohl auch im Blick auf die enormen Startprobleme vornehmlicher junger Aussiedler in Deutschland, die häufig ohne Deutschkenntnisse einreisen. Und sie sagte zu, dass die Bundesregierung auch künftig Hilfen für Russlanddeutsche in den Herkunftsgebieten leisten werde. In Anwesenheit des Aussiedlerbeauftragten Christoph Bergner erwähnte Merkel die Arbeit der Deutsch-Russischen Regierungskommission, die die Aktivitäten beider Länder für die deutsche Minderheit abstimmt und Schwerpunkte festlegt. In diesem Zusammenhang sagte die Politikerin zu, sich für die Belange der Russlanddeutschen bei Präsident Putin einzusetzen.

Kirchweih

Auf dem Besuchsprogramm stand auch die Einweihung der neu errichteten evangelischen St. Marienkirche, von der der deutschstämmige Gouverneur Viktor Kress sagt, das Gotteshaus werde künftig das geistig-kulturelle Zentrum aller Lutheraner in Tomsk und Region sein. Bereits bei ihrer Visite im Russisch-Deutschen Haus hatte die Bundeskanzlerin sich bei den Kirchenvertretern nach dem Verhältnis zur russisch-orthodoxen Kirche erkundigt. Eine Caritas-Mitarbeiterin räumte ein, dass orthodoxe Priester häufig soziale Projekte der katholischen oder evangelischen Kirche behinderten, während die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen reibungslos sei.

Zum Bau der Kirche – die Mitte des 19. Jahrhunderts errichtete Vorgängerkirche war in der Sowjetzeit abgerissen worden – hatte die Stadt Tomsk im November vergangenen Jahres ein Grundstück zur Verfügung gestellt. In Rekordzeit von nur fünf Monaten wurde schließlich die neue Holzkirche gebaut, am 23. März wurde die Turmspitze auf das 26 Meter hohe Gotteshaus gesetzt. Als Vorbild für die Marienkirche diente eine vor zehn Jahren in Karelien gebaute evangelische Kirche. 14 Millionen Rubel hat der Gebietshaushalt zum Bau beigesteuert, der Rest kam durch Spenden vor allem russlanddeutscher Unternehmer zusammen. (© ORNIS, 29. April 2006)


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Links zum Thema
- Russisch-Deutsches Haus Tomsk

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