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Integration oder Aufruhr wie in Frankreich?
Berlin – Wird es auch in Deutschland so schwere Unruhen unter zugewanderten Jugendlichen geben wie dieser Tage in Frankreich? Ist es vorstellbar, dass es zu vergleichbaren Protesten sozial Ausgegrenzter kommen könnte, bei denen Nacht für Nacht Autos und Gebäude brennen? Die gewalttätigen Ausschreitungen in französischen Städten haben in deutschen Medien ein enormes Echo gefunden. In zahlreichen Zeitungen wurden Überlegungen angestellt und Experten darüber befragt, ob sich die französischen Ereignisse auf die Bundesrepublik übertragen ließen:
Keine Zuwandererghettos
Berlin - „Nicht in dieser Form, nicht in dieser Breite und nicht in der näheren Zukunft“, glaubt der Migrationsforscher Klaus J. Bade. In Deutschland gebe es keine eigens für Migranten errichteten Vorstadtviertel, die inzwischen zu gigantischen Zuwandererghettos geworden seien. Allerdings, so Bade in einem Gespräch mit dem Berliner «Tagesspiegel» vom 10. November, gebe es in Deutschland erst seit sehr kurzer Zeit eine wirkliche Integrationspolitik. Bade weist darauf hin, dass es zahlreiche Deutsche gebe, die nur als bedingt integriert gelten können. Als Beispiel nennt er „einen deutsch radebrechenden jugendlichen Spätaussiedler, der aus Frust über Heimatverlust und Ausgrenzung gewalttätig geworden ist“.
Protestpotential
Hamburg - In Deutschland sieht Klaus J. Bade keinen Anlass, sich zurückzulehnen und zu sagen: Ähnliches wie in Frankreich könne hier nicht passieren. Das sagte der Migrationsexperte der Universität Osnabrück am 7. November in einem Interview mit der «Tagesschau», der Nachrichtensendung des Ersten Fernsehprogramms. In der Bundesrepublik gebe es ein wachsendes jugendliches Protestpotential von Leuten, die anzugreifen beginnen, weil sie keine Chancen mehr sähen. „Die Spitzengruppe sind die Spätaussiedler“. Bade forderte die Politik auf, den Eingliederungsprozess der Zuwanderer zu begleiten, auch wenn das teuer würde. „Die sozialen Folgen verspäteter Integration sind sehr viel höher als die Kosten rechtzeitiger Integration.“
Macho-Kultur
Hamburg - Auch Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen stellt sich besorgt die Frage, ob es auch in Deutschland frustrierte Jugendliche aus sozialen Randgruppen gibt, „die vom französischen Protestfieber angesteckt werden könnten“. Neuere Untersuchungen seines Instituts in Hannover gäben einerseits Anlass zur Beruhigung, berichtet der Kriminologe in einem Beitrag für die Wochenzeitung «Die Zeit» vom 10. November. Seit 1997 sei die Zahl an Gewalttaten Jugendlicher leicht gesunken. Andererseits habe sich gezeigt, dass der „harte Kern der so genannten Intensivtäter“ fast unverändert geblieben sei. Gewalttätige Auseinandersetzungen, an denen Aussiedler doppelt so häufig beteiligt sind wie einheimische deutsche Jugendliche, fänden aber überwiegend zwischen Angehörigen ethnischer Gruppen – zum Beispiel russlanddeutsche gegen türkische Zuwanderer – statt. Bei der Anwendung von Gewalt spielten bei den männlichen Migranten aber weniger die soziale Lage oder ein Hass auf den Staat die dominierende Rolle als eine ausgeprägte Macho-Kultur.
"Autos anzünden ist doof"
Hamburg - "Völlig bescheuert, was da in Frankreich passiert." Der 21-jährige Russlanddeutsche Niko, in Kasachstan geboren, hält es für undenkbar, dass Gleichaltrige aus Sandbek am Rande von Hamburg nachmachen könnten, was Jugendliche in Frankreich derzeit vormachen. "Autos anzünden ist doof", sagte er der «Hamburger Morgenpost» vom 10. November. Die Einschätzung bedeute allerdings nicht, dass er und seine Freunde, die alle Spätaussiedler sind, mit ihrer Lage in der deutschen Gesellschaft zufrieden seien. Doch wenn er sich mit seinen Kumpels am traditionellen Treffpunkt neben den Müllcontainern trifft, befindet sich Bier in den mitgebrachten Flaschen, kein Benzin. Das weiß auch Holger Stuhlmann, Sozialdezernent in Hamburg-Harburg, einem sozialen Brennpunkt der Stadt: "Erstens gibt es bei uns keine Gettos von solchen Ausmaßen (wie in Frankreich), zweitens kümmern wir uns." In Deutschland blieben die Zuwanderer nicht sich selbst überlassen.
Implosion statt Explosion
Bad Aibling - Bilder, wie sie derzeit täglich aus Frankreich in den TV-Nachrichten zu sehen sind, werden jedenfalls im bayerischen Landkreis Rosenheim kaum zur Nachahmung herhalten. "Dort hat der Staat nicht nur eine Gettobildung zugelassen, sondern sich sogar gleich völlig zurückgezogen. Das wäre in Bayern undenkbar", so das bayerische Sozialministerium nach Auskunft der «Süddeutschen Zeitung» vom 8. November. An sozialen Brennpunkten mangele es aber auch in dem südlichen Bundesland nicht. Sozialarbeiter stellten unter jungen Aussiedlern oft "Frust und Perspektivlosigkeit" fest. Das äußere sich allerdings weniger in einer Explosion der Gewalt, als in "in einem nicht minder gefährlichen inneren Rückzug", in Selbstmord oder Drogensucht. "In Deutschland erleben wir eher eine Implosion als eine Explosion", erläutert der Augsburger Sozialreferent Konrad Hummel der Zeitung.
Eher Fäuste als Argumente
Berlin - "Einmal rief ein deutscher Junge ´russisches Schwein` hinterher", erzählt der 16-jährige Shenja der «Berliner Zeitung» vom 9. November. Da habe er ihn geschlagen. "Seitdem hat der so etwas nicht wieder gesagt", freut sich der in einem kleinen Dorf in Kasachstan geborene Russlanddeutsche. An der Gesamtschule im Berliner Bezirk Marzahn, die Shenja besucht, gibt es normalerweise keine Auseinandersetzungen zwischen einheimischen Deutschen und den zugewanderten Aussiedlern, die ein Drittel der Schüler ausmachen, schreibt die Zeitung. Richtige Feindschaften existierten zwischen den zugereisten und den ansässigen Jugendlichen nicht - echte Freundschaften aber auch nicht. Im Konfliktfall werde sich ein "ein russischer Junge eher mit seinen Fäusten verteidigen", erklärt die Sozialpädagogin Natalja Tibelus in der Zeitung die gelegentlich auftretenden Prügeleien. Einheimische Deutsche würden lieber länger diskutieren.
Zu guter Letzt
Berlin – „Varta“ ist 20 Jahre alt und hat sich verliebt. Seine Angebetete ist eine gleichaltrige „Deutschrussin“. Seit 18 Monaten sind sie zusammen, doch inzwischen weiß „Varta“ nicht mehr, was er von der Sache – und von seiner Freundin - halten soll. Ihre Eltern gestatten der jungen Frau nicht, einen Freund zu haben, der nicht ebenfalls russlanddeutscher Aussiedler ist. Und die Freundin scheint sich damit abzufinden. Seit „Varta“ sein Schicksal der Internet-Diskussionsseite «gulli:board» mitgeteilt hat, entwickelt sich ein lebhafter Wortwechsel. Aufschluss gibt die Debatte auch über den Kenntnisstand junger Leute zum Thema ‚Aussiedler’. Auf die Frage, woran man denn „Deutschrussen“ erkenne, gab „Varta“ zum Besten: „’Erkennen’ kann man sie daran, dass sie leicht russisch aussehen. Das sind Deutsche, die im zweiten Weltkrieg ausgewandert sind / vertrieben wurden. Sie haben dort gelebt und kommen dann wieder nach Deutschland.“