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Von Kerstin Eigendorf
Espelkamp, im März 2012 - Er ist der einzige Kinderarzt in einer der kinderreichsten Städte Nordrhein-Westfalens. Helmut Schöpfers Praxis in Espelkamp (Kreis Minden-Lübbecke) brummt. 80 Patienten werden pro Tag behandelt – und trotzdem macht der 69-Jährige Schulden. Einen Nachfolger sucht er vergebens.
Im Jahr 2010 hatte Espelkamp mit seinen etwa 25.000 Einwohnern die vierthöchste Pro-Kopf-Geburtenrate in NRW; ungewöhnlich für eine Gemeinde im ländlichen Raum. Die Bevölkerung besteht zu einem großen Teil aus Mennoniten – Spätaussiedler zumeist aus Russland. Großfamilien sind im Stadtbild keine Seltenheit. Viele von ihnen finden sich regelmäßig in Schöpfers Praxis ein.
Zuwanderer haben Espelkamp zu einer der kinderreichsten Städte in Nordrhein-Westfalen gemacht.
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Der 69-Jährige flitzt von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends durch die Praxis. Sie erinnert an einen Kindergarten. Knallrote Türen, überall bunte Bilder, an Spielzeug fehlt es nicht. Zwischen Kehlkopfentzündung, geröteten Augen und der kindlichen Angst vor der Impfnadel vergisst der Kinderarzt schnell das Minus auf seinem Praxiskonto. Doch es existiert: „Um etwa 80.000 Euro ist das Konto überzogen“, sagt Schöpfer. Um die Angestellten zu bezahlen, habe er seine Rente verpfändet. Zum ersten Mal in 34 Jahren konnte er kein Weihnachtsgeld bezahlen. Die Praxis ist auch noch nicht abbezahlt. Mit weiteren etwa 70.000 Euro steht er dafür in der Kreide.
Der gut laufenden Praxis steht ein bürokratischer Begriff im Weg: das „Regelleistungsvolumen“. Dieses gibt das deutsche Gesundheitssystem vor. Überschreitet Schöpfer die Summe, behandelt er also mehr Patienten als das System vorsieht, gibt es erst reduzierten Lohn, später gar keinen mehr. Weil die Politik das Problem im ländlichen Bereich mit wenigen Ärzten und vielen Patienten erkannt hat, verabschiedete der Bundestag Ende 2011 das Versorgungsstrukturgesetz. Es schafft Ausnahmeregelungen für Mediziner wie Schöpfer. Zu spät für den 69-Jährigen.
Der zehnjährigen Yara sind die Schulden ihres Kinderarztes egal. Sie hat Angst vor dem Holzstab, mit dem er ihre Zunge herunterdrückt, um in ihren Hals zu gucken. Doch Schöpfer ist ein Meister der Ablenkung. „Und gehste aufs Gymnasium?“, fragt er. „Ja, in Espelkamp.“ „Oh wei, da musste ja Französisch lernen. Und, gab es fünf Euro von Oma fürs Zeugnis?“ „Nein zehn“, antwortet Yara und lacht. Und schon ist der Holzstab zum Stäbchen mutiert. Jetzt hat der Kinderarzt nur noch eine Frage: „Mädchen- oder Jungentatoo?“ Die Zehnjährige grinst und schon klebt Schöpfer ihr ein rot-pinkes Abziehbild auf den Unterarm. „Weil Du so tapfer warst.“ Wie sehr er seinen Job liebt, ist unübersehbar.
Schöpfer kennt Yara seit ihrer Geburt – wie viele seiner Patienten. 20.000 Espelkamper Kinder und Jugendliche hat er in mehr als 30 Jahren behandelt. „Es gibt eine Familie, da habe ich Oma und Mutter im Kindesalter behandelt und nun kommt die Enkelin in die Praxis“, erzählt er. Wenn der 69-Jährige einmal nicht so eilig bei einem Patienten im Behandlungsraum auftaucht, wird die Arzthelferin gefragt: „Wo bleibt denn der Opa-Arzt?“ Die Kinder wissen, was sie an ihrem 69-jährigen Mediziner haben – und die Eltern auch. „Er kennt sich aus und strahlt so eine Ruhe und Sicherheit aus“, sagt Bianca Henke, Mutter der zweijährigen Summer.
In den sechziger Jahren war Espelkampp noch eine "Plansiedlung für Vertriebene und Aussiedler". (Foto: Bundesarchiv)
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Dieses Vertrauen müsste sich ein Nachfolger erst erarbeiten – wenn es denn einen gäbe. Seit Jahren ist Schöpfer auf der Suche. Einer hat sich gemeldet, aber direkt abgewunken, als er Espelkamp hörte. „Der wollte ohnehin nur 28 Stunden in der Woche arbeiten“, sagt Schöpfer und schüttelt ungläubig den Kopf.
Wenn vom Landärztemangel die Rede ist, wird reflexartig über den Hausarzt gesprochen. An den Kinderarzt denkt niemand. Dabei gehen laut Schätzung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bis 2020 fast 2500 Kinderärzte in den Ruhestand. 32 Kinderarztpraxen fanden bereits 2010 keinen Nachfolger und wurden geschlossen.
Schöpfer graut davor, wenn seine Weiterbildungsassistentin – für die er im Gegensatz zu Allgemeinmedizinern keinen Cent Zuschuss erhält – in wenigen Monaten geht. Sie macht dann ihr Examen. Die 34-jährige angehende Fachärztin wäre ein „Glücksgriff“ als Nachfolgerin. Doch Leonie Skowronek, die wegen ihres Lebensgefährten nach Espelkamp kam, ist vorsichtig. „Alleine würde ich das nicht machen.“ Schöpfer versteht die junge Frau. Als seine Tochter bis vor zwei Jahren noch gemeinsam mit ihm die Praxis betrieben hatte, ging es ihm finanziell besser. Zwei Ärzte heißt besseres Budget – so einfach ist das.