Pflege und nicht Leugnung der Muttersprache
Druck zur Anpassung kann emotionale Bindungen beeinträchtigen
Wenn man keine doppelte Halbsprachigkeit will, muss die Muttersprache nach dem Urteil der Kasseler Psychotherapeutin Christiane Winter-Heider weiter gefördert werden. Größtes Manko bei russlanddeutschen Jugendlichen: Leistungsdruck.
Kassel, im Oktober 2009 - Lese- und Rechtschreibkompetenz stehen in der Bildungspolitik hoch im Kurs; Deutschkenntnisse werden als Garant sozialer Integration bei Migranten zu Recht gefordert und Sprachunterricht steht deshalb mehr und mehr bereits im Bildungsprogramm der Kindergärten.
Doch lässt sich die Zweitsprache parallel zur Muttersprache allein durch kognitive Anstrengung im Bildungsprozess beliebig lernen? Nein, sagt Christiane Winter-Heider in ihrer soeben veröffentlichten Doktorarbeit an der Universität Kassel.
"Wenn wir keine doppelte Halbsprachigkeit wollen, müssen wir die Muttersprache in den Migrantenfamilien weiter fördern", meint die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Dabei stützt sie sich nicht nur auf eine Analyse der Theorien des Spracherwerbs, der Semiotik und der Symbolbildung, sondern auch auf ihre Fallstudien psychoanalytischer Therapien mit jugendlichen Aussiedlern aus Russland und Polen.
In den psychotherapeutischen Behandlungen dieser Jugendlichen zeigte sich, dass das Fehlen der Worte nicht durch kognitive Mängel und soziale Benachteiligung erklärt werden konnte. "Spracherwerb ist ebenso Teil eines komplexen psychodynamischen Geschehens", sagt Winter-Heider.
Wesentliches Hindernis für eine erfolgreiche Sprachentwicklung bei diesem Personenkreis ist nach ihrer Ansicht der bei deutschstämmigen Aussiedlern häufig anzutreffende Leistungsdruck aus dem übersteigerten Bestreben, sich der vorgefundenen Kultur vollständig anpassen zu wollen. Das ist nicht nur hinderlich für ihr psychisches Wohlbefinden.
Denn so stark die neuen Verhältnisse von dem Bild abweichen, das Russlanddeutsche sich von dem Land ihrer Vorfahren gemacht haben, so stark der Wunsch ist, in diesen neuen Lebensverhältnissen nicht als "Russe" aufzufallen, sondern endlich gesellschaftlich akzeptiert ohne Außenseiterstatus zu leben, umso mehr steigt in vielen Familien der Druck und umso geringer wird vielfach die emotionale Bindung zwischen den Familienmitgliedern. Umso geringer wird vor allem der Gebrauch der "alten" Muttersprache, die bisher Träger von emotionaler sprachlicher Zuwendung war.
Pflege und nicht Leugnung der Muttersprache ist deshalb die Forderung, die Winter-Heider nicht nur in Richtung Russlanddeutsche erhebt. Ihr Buch in Anlehnung an ein Gedicht von Rose Ausländer mit dem Titel "Mutterland Wort" versehen, referiert die dazu gehörigen Theorien und veranschaulicht und überprüft die Komplexität der Wirkfaktoren durch Fallgeschichten, die dem Leser Einblick in etliche Biografien geben. Es gibt Anregungen sowohl für die klinische und pädagogische Praxis, politische Entscheidungen als auch für breiter angelegte empirische Studien. (Informationsdienst Wissenschaft)
Christiane E. Winter-Heider
Mutterland Wort. Sprache, Spracherwerb und Identität
vor dem Hintergrund von Entwurzelung
Frankfurt am Main 2009