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"... dass die meisten Menschen ihre Rechte nicht kennen"

Junge Russen wollen nicht länger politisch passiv sein

Sie nennen sich Menschenrechtler, Oppositionelle, Tierschützer, Öko-Anarchisten, Neue Linke oder einfach nur Aktivisten. Sie sind jung, vernetzen sich im Internet, aber auch immer häufiger in der realen Welt, und es stört sie vor allem eines: die Passivität und die Ergebenheit der Bevölkerung dem Staat gegenüber. Ein Bericht über junge Russen wie man sie im Westen kaum kennt.

Von Nadja Douglas

Viel wird geschrieben hierzulande über den sich verbreitenden Rechtsradikalismus in Russland, über Neonazis und Geschichtsrevisionisten. Die Berichterstattung ist oftmals so negativ, dass man sich fragt, wie sich die russische Bevölkerung eigentlich dazu verhält. Junge Russen kommen dabei sehr selten zu Wort, Menschen aus den Provinzen noch weniger. Es gibt aber kleine Bewegungen, die im Westen bislang kaum wahrgenommen werden,  innerhalb der Russischen Föderation jedoch der Justiz und den Vollzugsbehörden Kopfschmerzen bereiten.

Allein gegen die Staatsgewalt

In Ulan-Ude treffe ich Nadeschda und Tatjana, zwei Menschenrechtlerinnen und Mitglieder der kleinen Oppositionspartei „Demokratische Union“. Im fernen Burjatien schreiben und publizieren die beiden Jura-Absolventinnen als Einzelkämpferinnen vor allem zum Thema Meinungsfreiheit. Darüber hinaus halten sie immer wieder an zentralen Stellen der Stadt einsame Mahnwachen ab, wie jüngst anlässlich der Ermordung der Memorialmitarbeiterin Natalia Estemirova in Tschetschenien.

Natürlich sind derartige Themen ein rotes Tuch für die Behörden und somit werden der 23-jährigen Nadeschda und der 25-jährigen Tatjana immer wieder Steine in den Weg gelegt. „Als meine Prüfer erfuhren, dass ich mich in meiner Diplomarbeit explizit gegen den neuen rechtlichen Status von Menschenrechtsorganisationen in der Republik [Burjatien] aussprach, wollten Sie mich zunächst gar nicht zur Prüfung zulassen,“ berichtet Tatjana. Außerdem befürchtet sie, dass sie vielleicht keine Arbeit finden wird.

Der Grund dafür: seit Anfang des Jahres wird gegen Nadeschda und Tatjana offiziell wegen politischen Extremismus’ ermittelt. Vier Mal sind sie bisher verhaftet worden. Anlässe waren unter anderem die Veröffentlichung eines offenen Briefes zum 23. Februar, dem Tag, der in Russland traditionell den Gefallenen und den Verteidigern des Vaterlandes gewidmet ist.

Nadeschda  und Tatjana
Sie wiesen darauf hin, dass an jenem Tag 1944 zahlreiche Völker (Tschetschenen, Inguschen, Tataren und andere) von Stalin deportiert wurden. Nadeschda erklärt: „Unsere Absicht war es, gegen die Verherrlichung des Militärs zu protestieren.“

Öffentlicher Einsatz für die Befreiung von Journalisten

Wir sitzen in einem Café im Zentrum von Ulan-Ude und man merkt den Mädchen an, dass sie sich hin und wieder vergewissern, dass auch niemand ‚zufällig’ unser Gespräch mithört. Wie ihr politisches Engagement anfing, möchte ich wissen. „Uns einte der Wille, repressierten Menschen zu helfen“, erklärt Tatjana. An ihrer Universität boten sie kostenlose juristische Beratung und Hilfe an. 2007 wurden sie radikaler und plädierten öffentlich für die Befreiung von inhaftierten burjatischen und russischen Journalisten.

„Was wir mit unserer Arbeit bezwecken? - Wir wollen vor allem eines, dass der FSB und die Strafverfolgungsorgane endlich ihre unbegrenzte Macht verlieren“, erklärt Nadeschda und redet sich in Rage. Doch dann wird sie wieder sachlich und betont: „Diese Behörden sollten sich doch endlich ihren eigentlichen Aufgaben zuwenden und die tatsächliche Kriminalität und grassierende Korruption in diesem Land bekämpfen.“ Tatjana fügt hinzu: „Wir brauchen wirklich mehr Transparenz und vor allem soziale Kontrolle.“
 
Ihre größte Sorge gilt nun dem drohenden Strafverfahren. Die Beweisführung der Behörden könnte eine Anklage nach Art. 282 des russischen Strafgesetzbuches (Anstiftung zu nationalem, rassistischem oder religiösem Hass) nach sich ziehen, das schlimmstenfalls zwei bis fünf Jahre Freiheitsentzug bedeutet. De facto, erfahre ich von den beiden Juristinnen, handelt es sich hierbei um einen frei interpretierbaren Straftatbestand, unter den beliebige Vorwürfe wie „politischer Extremismus und Verfassungsfeindlichkeit“ fallen können.

Nadeschda und Tatjana wurden bereits in einem psychologischen-gerichtlichen Institut Tests unterzogen, „die einfach erniedrigend waren. "Ich musste mir Zahlen, Texte, bunte Figuren merken ... und am Ende wurden mir Infantilismus und eine unreife Persönlichkeit attestiert,“ empört sich Nadeschda. Einen offiziellen Anwalt können sich die beiden „radikalen Liberalistinnen“, wie sie sich nennen, nicht leisten und verteidigen sich deshalb selbst.
 
Nadeschda und Tatjana sind allein auf weiter politischer Flur. Hin und wieder kooperieren sie lokal mit anderen Gruppen, so mit  „Junges Jabloko“, der Jugendorganisation der liberalen Partei Jabloko.

In Russland hat sich eine bei uns kaum beachtete Opposition von unten herausgebildet, die allmählich stärker wird:

Ulrich Heyden, Ute Weinmann
Opposition gegen das System Putin - Herrschaft und Widerstand im modernen Russland
Zürich (Rotpunktverlag) 2009, 326 Seiten
ISBN 978-3-85869-389-1
www.rotpunktverlag.ch
Politische Jugend in Russland – ein Überblick

Um das Spektrum politischer Jugendorganisationen in Russland zu überblicken, wird häufig unterschieden zwischen ideologischen Gruppen: linksradikale und kommunistische Organisationen (zum Beispiel die Jugendorganisation der KPRF), rechtsradikale und nationalistische Gruppen (etwa die wachsende „Bewegung gegen illegale Immigration“), liberale Gruppierungen (Junges Jabloko), sowie nicht zuletzt die kremltreuen Organisationen (Naschi).

Dabei wird oft übersehen, dass es sowohl bei den kremltreuen und nationalistischen Organisationen, als auch bei linksradikalen und liberalen Gruppen Überschneidungen gibt. Es wird außerdem übersehen, dass es Gruppierungen gibt, die sich nirgendwo einordnen lassen, und dass die Mehrzahl der jungen russischen Aktivisten gar kein Interesse an festgefahrenen, überkommenen Strukturen hat und sich lieber diffusen Subkulturen anschließt bzw. an spontanen, im Internet initiierten Aktionen teilnimmt.

Organisationen, die sich schwer einordnen lassen sind beispielsweise die aus vorwiegend jungen Mitgliedern bestehende National-Bolschewistische Partei um den umstrittenen Schriftsteller Eduard Limonow sowie die linksradikale russische Antifa.

Letztere hat in den Großstädten an Mitgliedern gewonnen und propagiert den frontalen Kampf gegen Neofaschisten. Ihre Mitglieder werden immer wieder Opfer von neofaschistischen Verbrechen und werden zudem gezielt von staatlichen Organen schikaniert. Diese beiden Gruppierungen liegen ideologisch weit auseinander, verfolgen jedoch kurioserweise ähnliche Zielsetzungen mit ähnlich radikalen, teils illegalen Methoden.

Öffentliche Proteste – eine neue Erfahrung

In Perm traf ich auf Aktivisten, die mit Ideologie wenig anfangen können und denen konkrete Aktionen und Initiativen wichtiger sind. „2005 begann ich aktiv teilzunehmen an den Protesten gegen die Bildungsreformen und die Vermarktung im Bildungssektor“, erzählt mir der 24-jährige Philosophieabsolvent Kostja. Zur Zeit seien besonders akut die vom russischen Gesetzgeber erwogenen neuen Vorschriften „zum Schutze junger Menschen vor unmoralischen Einflüssen“.

Dieses drohende Gesetzesvorhaben enthält unter anderem eine Ausgangssperre für schulpflichtige Kinder nach 23 Uhr, es möchte Subkulturen wie Emo, Gothics und Punks verbieten und nicht-russische Feiertage wie Halloween an Schulen untersagen.
Menschenrechtler sehen dies sehr kritisch und befürchten Einschnitte in Bürger- und Kinderrechte. 

Auch Gianna und Anja, die Kostja begleiten, werden bei den geplanten Protesten gegen diese „jugendfeindlichen Reformen“ dabei sein. Sie erzählen, dass sie ihre Freizeit in einer Auffangstelle für streunende Hunde verbringen. „Ursprünglich wollten wir uns mit anderen Aktivisten nur vernetzen, um weitere Freiwillige für unsere Hunde zu finden. Aber wir haben schnell verstanden, dass Tierrechte sehr viel mit den Menschenrechten zu tun haben.“

Sie fanden sich zusammen, als sie im Juni erstmals an einer Kundgebung gegen die Abschaffung des kostenfreien Nahverkehrs für Studierende und Schüler/innen in Perm teilnahmen. „Die Reaktion der Organe war total überzogen, wir waren vielleicht gerade einmal 100 Leute vor der regionalen gesetzgebenden Versammlung, die dieses Gesetz verabschiedet hatte. Die da drin bekamen so eine Panik, dass sie sogar Omon [Spezialeinheit der Polizei] anrücken ließen, die dann 15 von uns verhaftete, “ erzählt Gianna.

Die meisten Menschen kennen ihre Rechte nicht

Auf die Frage, wie ihre Beziehung zu den Behörden sei, erklärt Kostja: „Wir lehnen das politische System nicht ab, aber wir wollen, dass sie mehr mit uns Bürgern zusammenarbeiten. Mittlerweile haben wir es hier in Perm geschafft, dass die Beamten der städtischen und der regionalen Verwaltung auch auf uns zugehen, um gewisse Fragen mit uns zu diskutieren - natürlich vor dem Hintergrund, Proteste wie im Juni zu vermeiden.“ Dazu muss erwähnt werden, dass  Perm als eine der liberalsten Regionen Russlands gilt, und Aktionen wie jene im Juni noch nie zuvor stattgefunden haben.

Was sie am meisten in der heutigen russischen Gesellschaft stört, möchte ich noch wissen. Ohne zu zögern antwortet Gianna: „Dass die meisten Menschen ihre Rechte nicht kennen, ihnen nicht bewusst ist, dass diese Rechte verletzt werden, und dass sie noch nicht einmal daran interessiert sind, ihre Situation zu ändern oder zu verbessern.“

Schließlich erklärt sie mir noch, dass, wenn sie sich irgendwo politisch einordnen solle, sie am ehesten mit den Anarchisten und der „Autonomen Aktion“ sympathisiere, derjenigen Organisation, für die auch die im Januar ermordete Novaya Gazeta-Journalistin Anastasia Baburowa aktiv war.

Auf meine Frage, ob sie denn keinen festen Treffpunkt haben, lacht sie und entgegnet, dass das doch schwer möglich sei. Räumlichkeiten würden für solche Gruppen wie sie niemals zur Verfügung gestellt. Deshalb werden sie sich wohl auch weiterhin an der Fontäne im Park treffen, und wenn es kälter wird irgendwo privat zu Hause – so wie das in Russland schon immer war.
Nadja Douglas

 

Die Autorin ist Absolventin der Internationalen Beziehungen des IEP Paris. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie acht Monate bei der Parlamentarischen Versammlung der OSZE in Kopenhagen, wo sie sich mit politischen Entwicklungen und Wahlbeobachtung, besonders in osteuropäischen und zentralasiatischen Ländern, beschäftigte. Zuletzt verbrachte sie mehrere Monate in Russland, so auch bei der Menschenrechtsorganisation Memorial in Perm.


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Der Beitrag von Nadja Douglas erschien erstmals in der Zeitschrift Eurasisches Magazin, Nr.  11/09,  04. November 2009