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Aufeinandertreffen „der unheilvollsten Art“
Hamburg – Die Aufklärung des tödlichen Holzklotz-Angriffs von einer Autobahnbrücke auf den Wagen einer Spätaussiedlerfamilie, bei dem die 33-jährige Olga K. vor den Augen ihres Mannes und ihrer beiden Kinder ums Leben kam, nahm breiten Raum in der Berichterstattung praktisch aller Medien ein (siehe auch «ORNIS»). Der «Spiegel» befasst sich am 22. Mai insbesondere damit, dass sowohl das Opfer als auch der Täter dieses Verbrechens Spätaussiedler aus Kasachstan sind. „Eines Abends im März berührten sich die so ähnlichen Lebenswege der Aussiedler zufällig: Geschichte einer Katastrophe“, heißt es dazu im Spiegel. Wahrscheinlichkeitsrechnung könne grausam sein. Wie wahrscheinlich sei es, dass ein von einer Autobahnbrücke geworfener Gegenstand in einen mit 120 Stundenkilometer dahingleitenden Wagen schlägt, durch die Windschutzscheibe dringt und den Beifahrer trifft und tötet? Und wie wahrscheinlich ist es, fragt das Blatt weiter, dass Opfer und Täter eines solchen Irrsinns Einwanderer sind, im selben Land geboren, um dann viele Jahre, 5.000 Kilometer Luftlinie, fünf Zeitzonen und vier Grenzen später auf unheilvollste Art und Weise aufeinander zu treffen? Und dennoch sei es geschehen.
Entscheidend ist die soziale Herkunft
Frankfurt am Main – Eine Arbeitsgruppe der Innenministerkonferenz, die sich mit der Gewaltkriminalität junger Menschen befasst, forderte jüngst, „die Tatverdächtigendaten um die Herkunftsfaktoren“ zu erweitern – bislang werden diese nur in „deutsch“ und „nicht-deutsch“ unterteilt, berichtet die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» am 23. Mai. Auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter fordere schon seit längerer Zeit, in der Kriminalstatistik die Herkunftsländer der Straftäter zu erheben. „Jede Tat, die einem eingebürgerten Deutschen zugerechnet wird, wird damit der Gesamtgruppe der Deutschen zugerechnet“, klagte sein stellvertretender Bundesvorsitzender Rolf Jäger. Dagegen bezeichnet der Bundesvorsitzende der Deutschen Vereinigung der Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen die Forderung der Arbeitsgruppe als „kriminalpolitischen Schnellschuss“.
Daten über Migrationshintergründe seien zwar wichtig, gehörten aber eher in die Hände der kriminologischen Forschung als in den Polizeiapparat. Das Ansinnen habe auch etwas „Geschmäcklerisches“ und „Stigmatisierungspotential“. Für den Strafrechts-Professor Wolfgang Heinz von der Universität Konstanz liegt das Problem weniger in der Datenerhebung als in der Deutung der Daten. „Ebenso wenig wie der Pass ein kriminogener Faktor ist, ist es die Eigenschaft, Migrant zu sein.“ Entscheidend für das Risiko, kriminell zu werden sei für ausländische und deutsche Jugendliche ohnehin vor allem der soziale Hintergrund: Ausbildung, Bildungsgrad der Eltern, Gewalterfahrung in der Familie. Solche Informationen würden in der Polizeilichen Kriminalstatistik allerdings nicht erfasst.
„Das habe ich doch gesagt“
Dresden – Selbst wenn Russlanddeutsche fehlerlos Deutsch sprechen, ist ihr Akzent oft eine Hürde, etwa auf dem Arbeitsmarkt. Nicht nur, weil ein Akzent das Verstehen erschwert, sondern auch, weil osteuropäische Akzente mit negativen Assoziationen besetzt sind, schreibt die «Süddeutsche Zeitung» am 21. Mai. In Dresden entwickelt das Institut für Akustik und Sprachkommunikation der Universität eine Lehrmethode, die Migranten helfen soll, Aussprachefehler zu überwinden. Bei der Methode handelt es sich um ein Computerprogramm, das mit Spracherkennung arbeitet, um den Akzent zu analysieren und gezielt zu verändern. AZAR wird das Programm genannt, ein Kurzwort für „Apparat zur Akzentreduzierung“. Der Prototyp ist gerade fertig geworden und wird zum ersten Mal in den Universitätskursen benutzt. Die Übungen seien zwar speziell für Russlanddeutsche entwickelt worden, die Methode eigne sich aber für jede Sprache. Als ein Beispiel für typische Probleme, die Russlanddeutsche haben, nennt der Slawist Rainer Jäckel, der bei der Entwicklung von AZAR mitgewirkt hat, das „NG“. Russischsprachige würden es getrennt sprechen. So höre sich das Wort Engel wie En-gel an. Jäckel: Ihr Gehirn ist nicht trainiert, den Unterschied zu hören. Wenn ich Engel sage, hören sie ebenfalls En-gel. ‚Das habe ich doch gesagt‘, ist dann die Reaktion.“
Die Rückkehr des Deutschen nach Kaliningrad
Hamburg – Im ehemaligen Ostpreußen, heute russische Exklave an der Ostsee, lebt die alte Geschichte wieder auf, berichtet der «Stern» am 22. Mai. Das Deutsche werde ins Leben zurückgeholt. ‚Königsberg’ heißt ein Bier, das in Kaliningrader Gaststätten getrunken wird. In deutscher Schrift steht der Name auf der Flasche, darunter: „Nach dem Reinheitsgebot von 1516 gebraut.“ Im wieder aufgebauten Dom braust im Kaliningrader Bach-Jahr die Matthäus-Passion aus der gewaltigen Orgel, und unter dem Dach der Backsteinkirche ist ein Kant-Museum eingerichtet, heißt es weiter. Auch das zerstörte Königsberger Schloss soll auferstehen – „vom Kreml bezahlt“. Und in einer lokalen Zeitung würden Pläne für die Rekonstruktion der historischen Altstadt ausgebreitet. „Es ist ein kleines, stilles Wunder, das im Oblast Kaliningrad zu besichtigen ist“, schreibt das Magazin. Das frühere Ostpreußen suche seine Identität in der Rückbesinnung auf die deutsche Geschichte. Nirgendwo sonst habe es einen so radikalen Bevölkerungsaustausch gegeben wie dort: Die Deutschen wurden vollständig vertrieben, die neuen Bewohner – heute eine Million Menschen, darunter nur etwa 8.000 Russlanddeutsche – kommen aus allen Teilen des früheren Sowjetimperiums.
Vermittler zwischen deutscher und russischer Kultur
Leipzig – Der Internationale Museumstag wird in Sachsen mit einem großen Fest des Leipziger Schulmuseums gefeiert. Unter dem Motto ‚Leipzig ist unser Zuhause‘ zeigen hundert russlanddeutsche und jüdische Kinder ihre besonderen musikalischen und tänzerischen Talente, heißt es in der «Leipziger Volkszeitung» am 19. Mai. Das Museum hatte bei der diesjährigen Ausschreibung den ersten Preis gewonnen und will sich als internationaler Vermittler zwischen deutscher und russischer Kultur präsentieren.
„Man versteht die Neuen nicht“
Nürnberg – Noch fühlt sich der 69-jährige Rudolf Eichler in der evangelischen Kirche in Bayern nicht richtig zu Hause, auch wenn er seit über zehn Jahren in Nürnberg wohnt. „Viel mehr mit uns persönlich sprechen muss die Kirche“, glaubt der Russlanddeutsche, wie das bayerische «Sonntagsblatt» am 22. Mai berichtet. Etwa 240.000 Spätaussiedler sind laut Bundesverwaltungsamt zwischen 1993 und 2006 nach Bayern eingewandert. Davon bekennen sich laut Landeskirchenamt mehr als 210.000 zur evangelischen Konfession. Inzwischen macht diese Gruppe fast zehn Prozent der bayerischen Protestanten aus. Die Integration „der Russen“ sei für viele Kirchengemeinden schwierig, Vorurteile bei den Einheimischen sind nicht selten. Langsam reagiere die Kirche auf die seit Jahren anwachsende Gruppe russlanddeutscher Kirchensteuerzahler: 30 Pfarrer und Diakone beraten in Bayern speziell Aussiedler in Glaubens- und Lebensfragen. Doch von einer generellen kirchlichen Offenheit ist man meilenweit entfernt, zitiert das Blatt den Regensburger Pfarrer Thomas Riedel.
Seit einigen Jahren beobachte er eine zunehmende Ablehnung bei der alteingesessenen Bevölkerung. Diese Anti-Haltung gelte auch für evangelische Gemeindemitglieder. Christian Eyselein, Autor des Buchs „Russlanddeutsche Aussiedler verstehen“, erklärt das in der Zeitung so: „Je mehr Menschen in die Gemeinden kommen, die untereinander Russisch sprechen, umso größer ist die Irritation. Man versteht die Neuen nicht und ihre kulturelle Prägung. Ich habe mal von einem Pfarrer gehört, der sagte, ‚die passen nicht zu unserer Kultur‘. Das ist ein starker Abwehrreflex.“
Enttäuschte Russlanddeutsche
München – Immer mehr Deutsche packen ihre Koffer, dafür kommen immer mehr Ausländer nach Deutschland, schreibt die «Süddeutsche Zeitung» am 20. Mai und zitiert aus Angaben des Statistischen Bundesamts. Danach zog es 2006 bereits 155.000 Deutsche in die Ferne – zehntausend mehr als ein Jahr zuvor. Höhere Sozialstandards und sicherere Jobs im Ausland gehörten zu den Hauptgründen für die Auswanderung. Migrationsforscher weisen darüber hinaus auf viele weitere Motive hin – vom Rentner, der seinen Lebensabend in klimatisch angenehmeren Regionen verbringen will, über enttäuschte Russlanddeutsche bis hin zu Auswanderern, die bereits Auslandserfahrungen gesammelt haben und soziale Kontakte wieder auffrischen wollen. Insgesamt aber, so die Zeitung, seien 2007 mehr Menschen eingereist als ausgereist: 683.000 zogen zu, knapp 635.000 fort.
Bessere Chancen durch Hausaufgabenbetreuung
Neuenkirchen-Vördern – Dörte Oltmanns betreut in der Grundschule in Vörden 21 Mädchen und Jungen, die freiwillig dienstags und donnerstags an einer Hausaufgabenbetreuung teilnehmen. In der Neuenkirchener Grundschule, wo Christina Klauss und Gerlinde Warnking die Betreuung leisten, sind es 19 Schülerinnen und Schüler, die das Angebot nutzen, schreibt die «Oldenburgische Volkszeitung» am 19. Mai. Das seit Dezember laufende Schulprojekt richtet sich nach den Worten des Sozial- und Ordnungsamtsleiters Martin Wiewerich in erster Linie an Kinder aus Aussiedler- und Ausländerfamilien sowie an Schüler mit besonderem Förderbedarf. Aussiedler- und Ausländerkinder hätten häufig vor allem wegen Sprachschwierigkeiten geringere Chancen, die Schule erfolgreich abzuschließen. Hinzu komme, dass die Eltern oft selbst nur schlecht Deutsch sprechen.
Den kulturellen Eigenheiten eine Bühne geben
Essen – Mit dem Festival „Essen Interkulturell“ will die Ruhrstadt die Tradition folkloristischer Straßenfeste überwinden und den kulturellen Eigenheiten der örtlichen Migrantenvereine eine ernsthaftete Präsentation ermöglichen, heißt es bei «Der Westen» am 19. Mai. Erstmals unternimmt die Stadt am kommenden Wochenende den Versuch, den kulturellen Eigenheiten der örtlichen Migrantenvereine eine Bühne zu geben. An zahlreichen Stätten werden Lesungen, Theater, Konzerte, Kabarett und Mitmach-Aktionen geboten. Getragen und gestaltet wird das Festival von elf Migrantenorganisationen, von denen einige – wie das Forum Russlanddeutsche und der Türkische Elternverband – eigens eine gemeinsame Choreografie einstudiert haben. Nach Angaben von Oliver Scheytt, der seit fast 15 Jahren Kulturdezernent in Essen ist, bietet das Festival die Gelegenheit, „Integration nicht immer nur als soziales Phänomen zu betrachten, sondern eine Kultur der Anerkennung hinzubekommen“.
Schlägerei zwischen Russlanddeutschen und Türken
Rottweil – Eine wilde Hetzjagd durch Schömberg, mehrere Schwerverletzte und eingeschlagene Autoscheiben – die folgenschwere Auseinandersetzung zwischen Spätaussiedlern aus dem Raum Rottweil und Türken aus Schömberg hat Polizei und Rettungsdienst in Atem gehalten, berichtet die «Neue Rottweiler Zeitung» am 25. Mai. Auslöser des Streits war laut Polizei eine Schlägerei in der vorangegangenen Nacht in Schömberg. Dort wohnende Türken hätten auf eine Gruppe Russlanddeutscher aus Rottweil eingeschlagen. Um sich zu rächen, sei eine 20 Mann starke Spätaussiedlergruppe am nächsten Abend nach Schömberg gefahren. Hier hielten sie das Auto eines türkischen Bürgers an, zogen ihn aus dem Wagen und verprügelten ihn „aufs Übelste“, heißt es weiter. Währenddessen traten andere Russlanddeutsche die Haustür der Wohnung eines anderen Türken ein und bedrohten den Mann, um den Aufenthaltsort der Angreifer vom Vorabend zu erfahren. Zwischenzeitlich hatte sich eine Gruppe Schömberger Türken formiert, um eine regelrechte Hetzjagd auf die Spätaussiedler aus Rottweil zu starten. Vier Schwerverletzte wurden nach der Prügelei in Krankenhäuser eingeliefert. ‚Rädelsführer’ sollen ein 43-jähriger Russlanddeutscher, seine beiden Söhne und drei weitere Personen im Alter zwischen 18 und 52 Jahren gewesen sein. Gegen sie ermittelt die Polizei wegen schweren Landfriedensbruchs.