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Moskau, im November 2007 - [...] Im Folgenden möchte ich mich zu einigen grundlegenden Aspekten äußern, die die Deutschen, die heute noch in Kyrgyzstan leben, bewegen. Aus den Medien ist Ihnen sicher bekannt, dass die gegenwärtige politische Situation in diesem asiatischen Land sehr kompliziert ist. Die Instabilität währt inzwischen bereits zwei Jahre.
Im März 2005 wurde die Welt von den Ereignissen aufgeschreckt, die sich in Bischkek, der Hauptstadt Kyrgyzstans, abspielten. Die damalige Situation war von Aufruhr und Pogromstimmung geprägt. Bereits am Morgen des folgende Tages nach dem Ausbruch der Unruhen war der Platz um das Deutsche Haus in Bischkek voll von Deutschen, die forderten, unverzüglich die Ausreise nach Deutschland zu organisieren, da die Situation aus dem Ruder zu laufen drohte. Es tauchten bereits Personen auf, die sich hasserfüllt und nationalistisch gebärdeten. Natürlich bekamen es unsere Leute mit der Angst zu tun, und wir sahen uns gezwungen, in Deutschland um Rat zu fragen. Die Antwort damals lautete: Wenn die Situation weiter eskaliert, werden wir die Frage prüfen.
Heute leben in Kyrgyzstan noch etwa 15.000 Deutsche. 1989, im Jahr der letzten Volkszählung in der Sowjetunion, waren es noch 101.272 Deutsche. Der Prozess der Migration hat sich aufgrund der politischen Lage und der Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation, die sich natürlich auch auf soziale Fragen auswirkt, weiter verstärkt.
Dazu kommt, dass die Deutschen in Kyrgyzstan keine Perspektive mehr sehen. Die Auswanderungszahlen haben einen Höhepunkt erreicht. Bis 2005 hat der Präsident des Landes, Askar Akajew, den Belangen unserer Volksgruppe große Aufmerksamkeit geschenkt. So wurde 1992 auf seine Initiative erst der Volksrat der Deutschen Kyrgyzstans gegründet. Akajew, ein Mensch von hoher Intelligenz, hat die richtigen Akzente in den Beziehungen zwischen den Nationalitäten gesetzt, von denen es damals immerhin hundert in Kyrgyzstan gab.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion mussten zunächst einmal die finanziellen Fragen gelöst werden. Akajew hatte verstanden, dass man mit Unterstützung der deutschen Minderheit Brücken der Zusammenarbeit zu Deutschland bauen kann. Das zahlte sich aus. Deutschland steht immerhin auf dem ersten Platz, was finanzielle Leistungen und Hilfe durch Beratung betrifft.
Allerdings ist dabei auch zu berücksichtigen, dass die meisten der in Kyrgyzstan lebenden Deutschen Verbannte, also Figuren in einem großen politischen Spiel waren. Heute ist oft die Rede davon, dass es in Russland keine Nationalitätenpolitik gibt. Ich glaube schon, dass es eine Nationalitätenpolitik gibt. Sie besteht meines Erachtens darin, dass man nichts tun kann und die Assimilation ungehindert fortschreitet. Wir erwarten von Russland konkrete Taten. Schließlich kann es nicht so weitergehen, dass selbst in Russland diese Frage nicht gelöst wird.
Das Fundament für den Erhalt der russlanddeutschen Volksgruppe ist die Rehabilitierung. Wenn wir das nicht anerkennen wollen, laufen all unsere Bemühungen ins Leere, und unsere Volksgruppe wird aufhören zu existieren. Es müssen endlich wirkungsvolle Maßnahmen folgen.
Was haben wir denn zu verlieren? Wir haben doch nichts. Ich spreche von Kyrgyzstan. Wir haben hier keine materielle Basis für die Existenz unserer Gemeinde, die Bedingungen dafür fehlen. Wir beobachten, wie die Islamisierung des Landes fortschreitet. Auch die Regierung hat die Situation erkannt, aber sie tut nichts. Die Wirtschaft stagniert, die Menschen werden immer ärmer. Meine Liste mit deutschen Hilfebedürftigen wächst jedes Jahr um 25 Prozent. Die Deutschen im Land werden eigentlich immer weniger, aber die Zahl der Hilfebedürftigen steigt.
Das Volk verarmt. In dieser Situation können wir keine fundamentalen Projekte in Angriff nehmen. Wir können die Agonie der Assimilation nur ein wenig verlängern. Die Sprache gerät in Vergessenheit, es ist nichts mehr da. Deshalb hat die Kulturautonomie nur eine Aufgabe: die politische Frage, die Frage der Rehabilitierung zu lösen. Sie tut heute alles Mögliche, klopft an jede Tür. Eine andere Frage ist es, ob sie Erfolg haben wird. Russland ist ein großes Land. Dort ist es sicher schwierig, bis zu einem Beamten der mittleren Ebene vorzudringen. Man muss entschlossen vorgehen, wenn man etwas erreichen will. Sonst stehen wir alle zusammen auf verlorenem Posten.
Zum einen gibt es bei uns in Kyrgyzstan keine kompakten Siedlungegebiete, und zum anderen: Auch wenn wir mit Ihnen [in Russland] zusammen solche Maßnahmen wie Festivals oder Sprachprogramme organisieren, werden wir unsere Volksgruppe hier damit nicht retten können.
Politologen und Soziologen jedenfalls gehen davon aus, dass eine Volksgruppe, von der nicht mindestens tausend Personen kompakt zusammenleben, der Assimilation nicht entgehen kann. Hier spielen natürlich verschiedene Faktoren eine Rolle. Von ausschlaggebender Bedeutung aber ist der Umgang miteinander, der Kontakt und die Kommunikation auf der Basis der Kultur des deutschen Volkes. Das gibt es bei uns überhaupt nicht.
In Russland dagegen liegt die große Gefahr darin, dass es zwischen den verschiedenen russlanddeutschen Organisationen noch nie ein einheitliches Zusammengehen gegeben hat. Angesichts des großen Ziels sollten aber persönliche Ambitionen hintangestellt werden, wenn wir noch über ein gewisses Maß an Stolz verfügen und uns zu Recht Russlanddeutsche nennen wollen. Es wäre unbedingt nötig, einen gesamtnationalen Kongress der Deutschen Russlands einzuberufen und endlich ein Koordinationsgremium zu wählen. Sowohl die deutsche als auch die russische Seiten sollen mit uns rechnen.
Auch bei der Frage der Migration müssen wir zusammenarbeiten. Wir bemühen uns nach Kräften, das eine oder andere gelingt auch. Immerhin ist die Migration nach Russland sehr stark angewachsen. Viele Deutsche, die aus Kyrgyzstan kommen, finden sich in Russland in einer Situation wieder, die mit der von Sklaven vergleichbar ist. Wir müssen dafür sorgen, dass das in zivilisierte, europäische Bahnen gelenkt wird. Und weiterhin wäre es sehr wichtig, einen Unternehmerverband der Russlanddeutschen zu gründen, weil jede Politik auf die solide Basis einer adäquaten Finanzierung angewiesen ist.
Quelle: Валерий Диль: „O положении российских немцев в Киргизии“;
Valerij Dil’: „O polozenii rossijskich nemcev v Kirgizii“;
Neues Leben 10/07, S. 9; Übersetzung: Norbert Krallemann
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