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Von Viktor Krieger
Unter Russlanddeutschen verstehen wir hauptsächlich Nachkommen der handwerklich-bäuerlichen Einwanderer aus Westeuropa, in erster Linie aus den deutschen Kleinstaaten, die im 18. und 19. Jahrhundert zur Urbarmachung im unteren Wolga- und im Schwarzmeergebiet angesiedelt wurden. Sie kamen in ein Land, dass im Laufe der territorialen Ausdehnung seit dem 16. Jahrhundert zahlreiche Hochkulturen und „primitive“ Völker eingliederte, in den meisten Fällen jedoch ihre soziale Struktur, Sprache, Wirtschaft- und Lebensweise unangetastet ließ.
Damit erklären sich die erhalten gebliebenen sprachlichen und kulturellen Merkmale der deutschen Kolonisten bis zum Ende der Monarchie. Andererseits begann sich unter den völlig anderen politischen, sozialen und klimatischen Bedingungen der neuen Heimat ein neues ethnisches Selbstverständnis herauszubilden. Das kennzeichnete vor allem die in einem kompakten Siedlungsgebiet lebenden Wolgadeutschen mit ihrem starken Zusammengehörigkeitsgefühl.
Dieses neue nationale Selbstbewusstsein führte neben der traditionellen Loyalität und Pflichterfüllung im Ersten Weltkrieg zu einer eindeutigen Parteinahme zugunsten des Zarenreichs: Zehntausende Schwarzmeer- und Wolgadeutsche kämpften als russische Soldaten an der Front gegen Deutschland und seine Verbündeten. Von der Führungsschicht des Staates aus betrachtet, stellten die Deutschen vor 1917 ein systemstabilisierendes Bevölkerungselement dar.
Den politischen und gesellschaftlichen Zielen der an die Macht gekommenen Bolschewiki stand die Mehrheit der Siedler skeptisch bis ablehnend gegenüber, was sich u.a. in zahlreichen Bauernaufständen der Jahre 1918-1921 und in anhaltender Protesthaltung in den darauf folgenden Jahren äußerte. Andererseits profitierten die Wolgadeutschen anfänglich von der Nationalitätenpolitik und erhielten eine autonome Republik. Dies war umso wichtiger, als in der Sowjetunion politische, sprachlich-kulturelle und sozioökonomische Rechte einzelner Völker an das Vorhandensein einer territorialen Autonomie gebunden waren. Deshalb stieß die sozialistische Gesellschaftsordnung bei denjenigen Vertretern der jüngeren Generation, die von Bildungs- und Aufstiegschancen profitierten, auf eine gewisse Zustimmung.
Die widerrechtliche Auflösung der nationalen Republik 1941 markierte jedoch den Übergang zu umfassenden Verfolgungen und Diskriminierungen der gesamten russlanddeutschen Minderheit. Der Ausschluss von den Kriegserfahrungen der Sowjetvölker, v.a. das weitgehende Verschweigen ihres opferungsvollen Einsatzes im Rahmen der sog. Trudarmija führten zu weiteren Entfremdungen. Die jahrzehntelange germanophobe Politik der kommunistischen Herrscher machte Millionen von Betroffenen das Leben schwer, löste Feindseligkeiten und Verdächtigungen aus, behinderte ihr berufliches Fortkommen, führte zur Verkümmerung der Muttersprache und der nationalen Kultur, blockierte das Entstehen einer eigenständigen Identität und untergrub weitgehend ihre Loyalität zum Sowjetstaat.
Der kurz nach der Perestrojka zum wiederholten Male unternommene Versuch, die Russlanddeutschen ein gleichberechtigtes sowjetisches bzw. russländisches Volk mit einer territorialen Autonomie werden zu lassen, scheiterte erneut. Die meisten Deutschen waren schließlich nicht mehr bereit, ihren minderen Status widerspruchslos hinzunehmen. Angesichts der ungesühnten Verbrechen und der fortdauernden Diskriminierung entschlossen sich größere Teile dieser leidgeprüften Minderheit, nach Deutschland auszuwandern.
Im vereinigten Deutschland leben heute mehr als zweieinhalb Millionen Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft; somit stellen sie einen gewichtigen demographischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Faktor in diesem Land dar. Für ihr Selbstverständnis spielt die Erinnerung an Unterdrückung und Verfolgung eine prägende Rolle. Dabei waren die Deutschen aus Russland nicht nur Objekte staatlicher Politik, sondern traten auch als handelnde und bestimmende Personen auf, die Widerstand, Protest und Verweigerung leisteten. Ihre jahrhundertelange, zum Teil leidvolle Vergangenheit ist zu einem integralen Bestandteil nicht nur der russischen, sondern auch der deutschen Geschichte geworden. Es ist höchste Zeit, dass im kollektiven Gedächtnis der deutschen Nation diese historischen Erfahrungen einen würdigen Platz finden. (ORNIS, 19. Mai 2007)
Dr. Viktor Krieger, Historiker, ist Lehrbeauftragter am Seminar für Osteuropäische Geschichte der Universität Heidelberg. Sein Forschungsinteresse gilt vor allem der Geschichte der Russlanddeutschen im 20. Jahrhundert. Krieger stammt aus Kasachstan und lebt seit 1991 in Deutschland.
Die Veranstaltung findet statt am 26. Mai, 14.00 bis 16.00 Uhr, Rhein-Main-Hallen, Wiesbaden, Saal 12A
Links zum Thema |
- Landsmannschaft der Deutschen aus Russland - Homepage von Dr. Viktor Krieger |