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Gutachten
Kierspe – Ein Sozialwissenschaftler der Universität Dortmund hat für die Kleinstadt Kierspe in Nordrhein-Westfalen ein Gutachten angefertigt „Zum Stand der Integration der Spätaussiedler in Kierspe“ und dieser Tage im Rathaus vorgestellt. Den Stand der Ermittlungen von Professor Friedrich Stallberg fasst der Reporter der «Meinerzhagener Zeitung» am 23. Juni so zusammen: „Die Integration der Menschen aus den ehemaligen sowjetischen Ländern gestaltet sich schwierig, weil sie so anders, wie sie sind, auch bleiben möchten.“ Über die 3000 in Kierspe lebenden Russlanddeutschen stellt der Wissenschaftler fest, sie lebten gleichsam unter Bedingungen einer Agrargesellschaft, wie sie vor über 130 Jahren auch in Deutschland geherrscht hätten. Fremd müsse zudem ihre Denkweise anmuten, die „mit einer pluralistischen Demokratie wie der in Deutschland unvereinbar“ sei.
In einem Bericht der «Westfälischen Rundschau», ebenfalls am 23. Juni, klärt sich die verallgemeinernde Darstellung von Aussiedlern etwas auf. Nahezu alle Russlanddeutschen in Kierspe sind Mitglieder einer Baptistengemeinde. Das habe Stallberg - immerhin - in zweijähriger Forschung herausgefunden. Besondere Sorge scheint dem Gutachter das „Unruhepotential“ junger Männer zu bereiten, die sich einerseits nicht mehr mit der religiösen Gemeinde verbunden fühlen, andererseits mit der neuen Gesellschaft nicht vertraut sind. Stallberg: „Dennoch hat sie das Leben in der Moderne schon mehr verändert als sie das wahrhaben wollen.“
Nach Ansicht des Dortmunder Wissenschaftlers ist die Aussiedlerpolitik der zurückliegenden 15 Jahre „völlig gescheitert“, in der Darstellung der Meinerzhagener Zeitung „aufgrund von Familienzusammenführungen und Umzügen innerhalb Deutschlands“. Stallberg rechnet damit, dass Einheimische womöglich Kierspe verlassen werden, während das Problem der Gewaltkriminalität, von Drogen- und Alkoholkonsum zunehmen werde. Stallberg: „Hier tickt eine Zeitbombe.“ Mahnend wendet er sich an die versammelten Hauptausschussmitglieder von Kierspe mit der für einen Sozialwissenschaftler eher ungewöhnlichen Formulierung: „Diese Zeitbombe erfordert viel mehr, als Sie bislang getan haben.“
Integrationsarbeit
Nürtingen – „Hand in Hand für Roßdorf“ heißt ein Integrationsprojekt der Caritas im gleichnamigen Stadtteil von Nürtingen. 800 der rund 4000 Einwohner sind Aussiedler. Roßdorf gilt als sozialer Brennpunkt. Die «Nürtinger Zeitung» berichtet am 22. Juni über einen Besuch des Aussiedlerbeauftragten Hans-Peter Kemper in dem Stadtteil, wo der Sozialarbeiter Jürgen Lippik seit über zwei Jahren das Projekt für die Aussiedler leitet. Er berichtete, wie im Lauf der Zeit das gegenseitige Vertrauen gewachsen ist und dadurch eine Basis für die Arbeit gelegt worden sei. Durch Zusammenarbeit mit Kirchengemeinden, Bürgervereinigungen und anderen sei eine große Angebotspalette an Beratung, Information und Aktivitäten entstanden. Für Kinder und Jugendliche müsse derzeit noch mehr getan werden. Doch nach drei Jahren wird das mit 55.000 Euro jährlich geförderte Projekt auslaufen. Bis dahin hofft Lippik, Ehrenamtliche gefunden zu haben, die einen Teil der Integrations- und Stadtteilarbeit fortsetzen können.
Marktchancen
Woskresensk – Für den deutschen Tapetenhersteller Erismann ist Russland derzeit der wichtigste Markt. Während in anderen europäischen Ländern der Absatz zurückgeht, ist in Russland mit weiterem Wachstum zu rechnen. Seit Dezember vergangenen Jahres produziert das Unternehmen in der Stadt Woskresensk, rund 80 Kilometer von Moskau entfernt. Leiter des Werks ist Daniel Faller, der vor über zehn Jahren aus Barnaul nach Deutschland ausgesiedelt war und seit 1998 bei Erismann beschäftigt ist. Nach einem Bericht des «Handelsblatts» vom 25. Juni erwirtschaftet der 33-Jährige einen Jahresumsatz von knapp 20 Millionen Euro. Von der Entscheidung, in Russland eine Fertigungsstätte zu errichten, bis zur ausgestatteten Fabrik seien lediglich anderthalb Jahre vergangen. Heute arbeiten hier 92 Menschen in der Tapetenfertigung. Inzwischen haben sich auch bereits zwei deutsche Zulieferer von Erismann auf dem Firmengeländer in Woskresensk niedergelassen.
Verfahren
Weiden – Für eine junge Frau aus Weiden ist ein Gerichtsverfahren wegen Betrugs glimpflich ausgegangen. Die 33-Jährige, die 1997 aus Kasachstan nach Deutschland ausgesiedelt war, war nach einem Bericht von «Oberpfalznetz» angeklagt, zu Unrecht Arbeitslosengeld bezogen zu haben. Nachdem sie ihren Arbeitsplatz verloren hatte und daher staatliche Hilfe erhielt, hatte sie eine Ausbildungsstelle als Kinderpflegerin gefunden und das der Arbeitsagentur nicht mitgeteilt. Das Verfahren endete mit einer Blamage für den Zeugen der Arbeitsagentur. Er konnte weder angeben, wie viel die Angeklagte inzwischen von dem widerrechtlich erhaltenen Geld zurückgezahlt hat, noch konnte er erklären, warum die Frau nicht die ihr zustehende Ausbildungsförderung erhalten habe. Der Richter urteilte daraufhin zu Gunsten der Angeklagten und machte seinem Ärger über den Auftritt des Berufsberaters Luft: „Arbeitsamt oder Agentur – es ist immer so.“
Todesfolge
Heilbronn – Elf junge Russlanddeutsche zwischen 17 und 22 Jahren stehen in Heilbronn vor Gericht. Im Januar sollen sie vor einer Diskothek eine Schlägerei angezettelt haben, bei der ein 30-jähriger Mann getötet wurde. Das berichtet «SüdwestRadio» am 23. Juni. Grund für die Attacke war offenbar, dass ihnen zuvor der Einlass in die Diskothek verwehrt worden war. Ebenfalls verantworten muss sich eine 18-jährige Frau, die zwei Angeklagte zum Tatort gefahren haben soll. Mit einem Urteil wird nicht vor Oktober gerechnet.
Zu guter Letzt
Pforzheim – Seit fast 30 Jahren leben Katharina und Eduard Reimann im Pforzheimer Stadtteil Buckenberg-Haidach. Die Tochter des russlanddeutschen Paares will im kommenden Jahr heiraten – und die Hochzeit soll im örtlichen Bürgerhaus stattfinden. Ob daraus allerdings etwas wird, ist ungewiss. Weil sich die Anwohner von feiernden Hochzeitsgesellschaften in ihrer Ruhe gestört fühlten, sind derartige Festivitäten fürs Erste untersagt. Reimanns wollen sich das nicht bieten lassen. Nach einem Bericht der «Pforzheimer Zeitung» vom 24. Juni haben sie damit begonnen, in der Nachbarschaft Unterschriften zu sammeln, um der Provinzposse ein Ende zu setzen, auf dass im Bürgerhaus von Buckenberg-Haidach auch wieder Hochzeiten gefeiert werden dürfen. Eduard Reimann hatte vorsichtshalber in benachbarten Stadtteilen nachgefragt, aber dort hieß es, die örtlichen Bürgerhäuser seien vor allem für die eingesessenen Vereine und Stadtteilbewohner da. Pforzheims Oberbürgermeisterin Christel Augenstein fand die passenden Worte - es sei „im Grunde genommen ein Jammer“.