Von Ljuba Gonchar
Ich bin jetzt 17 Jahre alt. 1997 kam ich als jüdische Migrantin aus der Ukraine nach Deutschland. Ohne ein einziges Wort Deutsch zu sprechen, überrollte mich die deutsche Sprache in der Grundschule regelrecht wie eine Lawine. Anfangs war es ziemlich befremdend und seltsam, da in deutschen Schulen andere Verhaltensregeln gelten als in der Ukraine. Zum Beispiel verläuft der Unterricht im ‚Osten’ wesentlich disziplinierter und strenger. Abgesehen davon unterscheidet man nicht zwischen Haupt-, Realschule und Gymnasium.
Das Erlernen der deutschen Sprache fiel mir einfacher als ich es mir vorgestellt hatte. Als einzige Russischsprechende in der Klasse musste ich mich ziemlich schnell zu verständigen lernen, sei es mit Händen oder Füßen. Zusätzlich habe ich zweimal pro Woche einen Sprachkurs aufgesucht.
Damals hätte ich mir niemals erträumen lassen können, dass die deutsche Sprache meine Muttersprache verdrängen würde. Ja, natürlich spreche ich noch Russisch, aber das Vokabular ist sehr eingeschränkt und simpel; ich denke in der deutschen Sprache, träume in der deutschen Sprache und ich rede sogar mit meinen russischsprechenden Freunden auf Deutsch, da uns im Russischen viele Vokabeln fehlen. Wie die meisten meiner Freunde habe ich in meiner Heimat nur die erste und zweite Klasse besucht. Das bedeutet, dass sich mein Vokabular seit meinem neunten Lebensjahr nicht weiterentwickelt hat. Zudem beginne ich allmählich Sachen zu vergessen.
Ich glaube, wenn es in dem Tempo weitergeht, schwindet mein Russisch bald ganz. Was zwar ganz witzig klingt, aber eigentlich etwas beängstigend ist: In meinem Umfeld werden oft Russisch und Deutsch miteinander vermischt. Das heißt, dass man zum Beispiel an deutsche Wörter russische Endungen anhängt oder andersherum. Meine Mutter regt sich besonders auf, wenn ich ihr mal einen Zettel auf Russisch hinterlasse, denn in jedem Wort sind mindestens zwei Fehler - meistens Buchstabenverwechslungen.
Nach der Grundschule habe ich eine Empfehlung für das Gymnasium bekommen und mich dann für das alt- und neusprachliche Gymnasium am Kaiserdom in Speyer entschieden. Dieses Jahr komme ich in die elfte Klasse mit den Leistungskursen Französisch, Geschichte und Deutsch. Auch daran kann man sehen, dass Deutsch eine große Rolle in meinem Leben spielt. Seitdem ich hier in Speyer eine Bücherei entdeckt habe, ist Lesen zu meiner Leidenschaft geworden. Zu meinen Lieblingsschriftstellern zählen: Milan Kundera [‚Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins’], Bernhard Schlink, Bertolt Brecht, Frederic Beigbeder etc. Natürlich lese ich auch Zeitschriften und Comics; Mangas bevorzugt. Mittlerweile darf ich mich auch beim Schreiben im Rahmen des elektronischen Magazins !Marcs austoben.
Die deutsche Sprache spielt auch bei der Produktion des deutsch-russischen Internetradios ‚Sloschnaja Kompanija’ eine grosse Rolle, bei dem ich mitmache. Dort wird gezielt die deutsch-russische Freundschaft durch Musik gefördert. ‚Sloschnaja Kompanija’ animiert zum Integrieren ohne dabei die eigenen Wurzeln zu vergessen. Ich kenne das Projekt zwar schon seit seiner Entstehungsphase vor mehr als vier Jahren, mit meiner langjährigen Freundin Katja Prokazova mische ich allerdings erst seit einem Jahr mit. Eigentlich mochte ich keinen Hip-Hop oder Rap, da ich nur dieses ‚Gangsta’-Gehabe aus VIVA oder MTV kannte, das die Normalsterblichen gar nicht anspricht. Irgendwann kam ich mit Katja an dem Sender vorbei und wir hörten richtig tollen Underground Hip-Hop aus Russland. Es war das erste Mal, dass ich russischsprachigen Hip Hop zu hören bekam, die Rhymes sprachen mir jedenfalls aus der Seele. Wir gingen rauf und aus dem einen Mal Vorbeischauen wurde mehr.
Mittlerweile planen wir gemeinsam Sendungen, legen Themen fest, suchen Musik aus, nehmen Kontakt mit Künstlern aus dem Undergroundbereich auf, schreiben Artikel auf die Homepage, pflegen die Homepage und moderieren schließlich die ‚Hip Hop-Show’, die Sendung auf Russisch und Deutsch. Man könnte sagen, wir arbeiten in allen redaktionellen Bereichen außer in der Technik. Seit unserem ersten Tag wurden wir herzlich in der Community aufgenommen und versuchen mittlerweile, unser Wissen auch an andere weiterzuleiten.
Durch die Radioarbeit habe ich viel Nützliches dazu gelernt. Ich bin viel offener anderen Menschen gegenüber geworden und genau dasselbe sollten Einwanderer, egal aus welchen Gründen sie sich entschieden haben, nach Deutschland zu kommen, auch tun. Unser Radio ist das beste Beispiel, dass eine Zusammenarbeit mit Einheimischen und Einwanderern reibungslos funktioniert: Das Radio basiert auf Freundschaften, die in den vergangenen Jahren gewachsen sind.
Zwei besonders aktive Macher sind Eugen und Tom. Eugen ist jetzt 21. Er ist Spätaussiedler, kommt aus Omsk und macht eine Ausbildung zum IT-Kaufmann. Bei uns ist er als Moderator oder in der Pressearbeit tätig. Er kann gut Deutsch und kommt bei anderen Menschen gut an. Tom, ein Deutscher, ist einer der ältesten. Er ist Betreuer und arbeitet in einer Organisation, die Spätaussiedler und andere Migranten von der Straße holt. Er ist erst zufrieden, wenn seine Schützlinge eine Ausbildung abgeschlossen und eine feste Arbeit haben. Über die Arbeit bei unserem Radio haben schon einige eine feste Anstellung bekommen oder sind auf weiterführende Schulen gekommen. (© ORNIS/ Ljuba Gonchar, 2. Dezember 2006)
Ljuba Gonchars Beitrag ist erstmals in der Berliner Gazette (http://www.berlinergazette.de) im Rahmen des Projekts McDeutsch (http://www.berlinergazette.de/index.php?pagePos=10) erschienen.