Man traut seinen Augen kaum. Erst wenige Minuten ist es her, dass die kleine Expeditionsgruppe den steilen Pfad zum Ufer des Irtysch heruntergestolpert ist, da stoßen die Sammler im zähen Schlamm des Flussbettes schon auf ihren ersten Fund: ein Stück Stoßzahn. Vor tausenden von Jahren hat sich wohl ein Mammut zu dieser Stelle geschleppt, um zu sterben. Das ist zumindest eine von mehreren möglichen Erklärungen, weshalb man im Südwesten Sibiriens, am nördlichsten Rand des Omsker Gebiets und in der Nähe der Kleinstadt Ust-Ischim unzählige Überreste der Eiszeitriesen findet.
Ewgenij Danchenko ist Professor für Archäologie an der Omsker Universität: „Wir vermuten, dass hier ein regelrechter Mammut-Friedhof war“, erklärt er. „Mit absoluter Gewissheit kann man das aber nicht sagen.“ Sicher ist dagegen eine andere Begründung: Durch das kalte Klima sind in Sibirien generell besonders viele Überreste der Urzeittiere erhalten geblieben.
Nikolaj Peristow ist kein Wissenschaftler, er ist Künstler. Detaillierte historische Erklärungen kann er zu den Fundstellen nicht abgeben. Für ihn zähle in erster Linie die Erfahrung, betont er. „Ich weiß, wo und wonach ich suchen muss“, sagt er selbstbewusst. Für den 48-jährigen Kunsthandwerker sind die Mammuts Inspiration und Lebensgrundlage zugleich. In seiner Werkstatt im Sibirischen Kulturzentrum in Omsk schnitzt er aus den Jahrhunderte alten Knochen Schmuck und Skulpturen – bereits seit über 20 Jahren.
Einmal im Jahr, im August, bricht der „Mammut-Mann“ zu Expeditionen Richtung Norden auf, um nach neuem Material für seine Arbeit zu suchen. Auch in diesem Jahr hat es ihn wieder nach Ust-Ischim gezogen, fast 800 Kilometer von Omsk entfernt. 14 Stunden dauert die Fahrt auf dürftig befestigten Straßen, Schotter- und Erdpisten. Die Besiedlung wird im Norden des Omsker Gebiets zusehends dünner, viele Dörfer sind verlassen. Wer jung ist und Arbeit sucht, zieht in die Stadt, in Russland kein Einzelphänomen. „Von der Natur hingegen bin ich jedes Mal wieder begeistert“, schwärmt Peristow und deutet auf die dichten Wälder zu beiden Seiten des Irtysch. Ust-Ischim liegt inmitten der sibirischen Taiga. Fischfang und Bärenjagd gehören für die Bewohner seit Jahrhunderten zum Alltag, auch wenn sie für die meisten heutzutage mehr Hobby als Ernährungsgrundlage bedeuten.
Seine Expeditionen seien für ihn immer auch ein bisschen Urlaub und Abenteuer, berichtet der Sibirjak mit dem dichten Bart und schiebt seinen breitkrempigen Hut zurecht. Dieses Mal begleitet ihn ein fünfköpfiges Team: Einer seiner Schüler, freiwillige Helfer, ein befreundeter Kunsthandwerker und eine Ethnologin. Der Spätsommer sei eine günstige Zeit, um auf die Suche zu gehen, erklärt Peristow. Der Wasserpegel des Irtysch sinkt dann auf seinen Tiefststand und legt die Schätze des Flussbettes frei: Überreste der Mammuts, Knochen von urzeitlichen Wollnashörnern und Bisons.
Der rund eine Elle lange Splitter des Mammutstoßzahns hat sich im tiefen Schlamm des Flussufers fest gesogen. Peristow zieht ihn mit einem geschickten Griff heraus und geht ein paar Meter weiter Richtung Wasser, um den Fund zu waschen - und um sich noch einmal zu vergewissern. „Ja, ohne Zweifel“, murmelt er, „Mammut“. Erkennen könne er das an der Struktur, erklärt er. „Und wenn dann noch Zweifel blieben, am Klang“, ergänzt sein Künstlerfreund Alexander Sinizkich und klopft mit einem kleinen Spaten einige Male auf die Oberfläche, dann auf einen ähnlich aussehenden Stein. Sofort brechen einige Splitter heraus. „Das ist das Besondere an Mammutknochen, sie sind härter als Stein, härter als Marmor“, fügt Peristow hinzu. Die Faszination für das uralte Material käme aber nicht nur daher, meint der Künstler. Liegen die Mammutknochen im Nordosten Sibiriens, in der Region Jakutien, im ewigen Eis konserviert, so nehmen sie im Omsker Gebiet die unterschiedlichen Schattierungen des Erdbodens an. Besonders beliebt seien bei seinen Kunden rötlich und bläulich gefärbte Kunstwerke aus Mammut, denn die seien besonders selten.
„Diese Färbung entsteht durch Eisen- und andere Mineralablagerungen in den Erdschichten“, sagt er. Sorgfältig verstaut er den Fund in einen großen Jutesack und stapft weiter. Die Suche ist mühsam, immer wieder bleiben die Sammler mit ihren Gummistiefeln im Schlamm stecken und rutschen am glatten Flussbett ab. Aber sie werden belohnt. Am Ende der einwöchigen Reise stehen auf der Ladefläche des Kleinbusses zehn volle Säcke, rund 600 Kilo Mammutknochen. Genügend Material für viele weitere Kunstwerke, die in Russland als Glücksbringer und Schutz vor Krankheiten gelten. Für Nikolaj Peristow in jedem Fall genügend, um für ein weiteres Jahr seine Lebensgrundlage zu sichern.
Bleibt nur noch die Frage: Gehören solche Funde nicht eigentlich ins Museum? Der Omsker Archäologe Ewgenij Danchenko überlegt kurz: „Nein“, sagt er schließlich, „da diese Knochen nicht, wie in Jakutien, im Eis konserviert sind, würden sie irgendwann zerfallen.“ Es sei besser, dass sie jemand einsammelt und erhält oder verarbeitet. Große, gut erhaltene Funde, wie ein Schädel oder sogar ein komplettes Skelett, gehörten natürlich in ein Museum, so Danchenko, aber: „Auf Knochenstücke, wie sie Nikolaj Peristow sammelt, trifft das nicht zu.“ (© ORNIS/Diana Püplichhuysen, 15. September 2006)
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- „Mammut – Riesen aus der Unterwelt“ (Ausstellung) - Weiterer Artikel von Diana Püplichhuysen zum Thema |