ORNIS: Herr Vahsen, Ihr jüngstes Forschungsprojekt hat den Titel „Russlanddeutsche – zwischen bleiben und auswandern“. Sind nicht längst alle Russlanddeutsche nach Deutschland ausgewandert?
Friedhelm Vahsen: Noch nicht. Schätzungen gehen davon aus, dass noch 600.000 bis 800.000 Menschen mit deutschen Wurzeln in Russland leben. Zwar geht die Anzahl der Aussiedler, die nach Deutschland einreisen, stark zurück, aber im letzten Jahr waren es noch 35.000. Das ist eine Herausforderung für die deutsche Gesellschaft und auch eine persönliche für die Russlanddeutschen.
Welche Ziele hat Ihr Projekt?
In Deutschland gibt es eine Reihe von Büchern über die Russlanddeutschen. Im Wesentlichen konzentrieren sich die Untersuchungen auf Russlanddeutsche, die in Deutschland angekommen sind. Es gibt nicht so viele Informationen über Russlanddeutsche, wie sie hier leben. Vor allem sind die Studien ungefähr zehn Jahre alt und haben an Aussagekraft verloren.
Mein primäres Ziel ist es, mehr Informationen zu liefern, wie Russlanddeutsche heute in Sibirien und Kasachstan leben. Diese Erkenntnisse möchte ich Menschen zur Verfügung stellen, die in Deutschland mit Russlanddeutschen arbeiten. Weiter sollte man darüber nachdenken, ob die Hilfesysteme in Russland nicht weiter entwickelt werden können. Die GTZ und andere Organisationen versuchen, den jungen Russlanddeutschen ein realistisches Deutschlandbild zu vermitteln. Aber die Vermittlung ist noch nicht optimal.
Ein weiterer Aspekt ist es zu untersuchen, ob es innerhalb der Ethnie oder auch mit anderen Volksgruppen Spannungen gibt. In der Forschung werden die Russlanddeutschen als homogene Masse gesehen. Aber sie sind es nicht. Zum Beispiel im Deutschen Nationalen Landkreis Asowo bei Omsk gibt es durchaus einen Unterschied zwischen den Russlanddeutschen, die immer dort gewohnt haben, und jenen, die aus Kasachstan zugezogen sind.
Junge Russlanddeutsche haben häufig Startschwierigkeiten in der deutschen Gesellschaft. Wie sollte Ihrer Meinung nach die Integration von Aussiedlern aussehen, damit sie erfolgreich ist?
Man muss hier in Russland anfangen. Man muss die Russlanddeutschen realistischer orientieren. Wenn jemand zum Beispiel Mediziner ist, dann sollte man ihm sagen: „Du glaubst zwar, dass du in Deutschland als Arzt arbeiten kannst oder zumindest als Krankenpfleger. Aber du musst davon ausgehen, dass du wahrscheinlich als Nachtwächter im Krankenhaus arbeiten musst, wenn du Glück hast.“ Das heißt, dass es eine systematische Vorbereitung schon im Herkunftsland geben sollte. Qualifikationskurse könnten nach Russland verlagert werden.
Zudem ist es wichtig, dass Schicksal der Aussiedler in Deutschland besser zu verfolgen. Sie sind nach dem Gesetz Deutsche. Sie werden nach der Einreise nicht mehr erfasst und tauchen erst wieder auf, wenn sie Probleme haben. Im Grenzdurchgangslager Friedland sollte das besser vorbereitet sein. Das sagen auch die Migrationdienste. Sie wollen mehr über das Leben der Russlanddeutschen wissen, zumal die Aussiedler immer jünger werden und in Deutschland den Wunsch verwirklichen möchten, ein besseres Leben zu haben.
Welche zentralen Kenntnisse sollte ein Russlanddeutscher mitbringen?
Erst einmal deutsch, deutsch, deutsch. Die Sprache ist der Schlüssel zu allem. Darauf kann man aufbauen, und die persönlichen Ziele sollten realistisch sein. Die jungen Aussiedler sollten sich über Berufschancen und Qualifikationen in Deutschland informieren. Sie müssen sich darauf einstellen, dass ihr Arbeitsleben nicht nur in Deutschland ist. Im Bereich der Ökonomie, Management und Planung können sie auch in Russland und anderen Ländern eingesetzt werden. Jährlich wandern 150 Millionen Menschen um den Globus. Die Migrationsprozesse verstärken sich in die Richtung, wo es Arbeit und Wohlstand gibt.
Wo sollten Russlanddeutsche zuerst eine Ausbildung machen, in Russland oder in Deutschland?
Es ist schwer zu beantworten. Das hängt sehr vom Alter und dem familiären Hintergrund ab. Ich würde erst einmal das Land, in dem ich lebe, als Grundlage nehmen und mein Leben aufbauen.
Sie haben in den vergangenen Tagen an der Konferenz „Deutsche in Sibirien – Geschichte und Kultur“ teilgenommen. Welche neuen Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
Ich habe gute Literaturhinweise bekommen, zum Beispiel das Buch von Malinowski zur Geschichte der Deutschen in Sibirien. Ich habe von einer ganzen Reihe von Projekten gehört. Viele sind auf mich zu gekommen und wollen bei unserem Projekt mitmachen. Leider war die Konferenz mehr an der Kultur und Geschichte orientiert und weniger an der jetzigen Situation. Dafür habe ich einen Überblick bekommen, was überhaupt an Forschung in diesen Bereich da ist. Wir haben die Zeit genutzt, einige Koordinierungsgespräche zu führen und das Forschungsdesign durchzugehen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Russlanddeutschen?
Den jungen Leuten wünsche ich, dass jeder eine gute Ausbildung macht, egal wo. Arbeit ist nach wie vor das Prägende im Leben. Dazu sollte jeder eine gute Sprachkompetenz bekommen und zwar nicht nur deutsch, sondern auch englisch oder eine andere Weltsprache. Auch sollten die Russlanddeutschen über den deutschen Tellerrand schauen. Ich würde nicht sagen, geh nach Deutschland oder bleib hier. Ich sage eher: „Sieh zu, wie du dein Leben gestaltest.“ Und wir müssen heute unsere Leben selbst gestalten. (© ORNIS, 20. Mai 2006)