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Die Greisin mit der Mütze

Aus der Mitte Amerikas in die Einöde Sibiriens
Die Greisin mit der Mütze Irma Hecker mit Enkelin Tanja
Foto: Boris Slepnjov

Irkutsk (ORNIS) - Fast zehn Jahre hat Irma Chudjakowa damit verbracht, ihr Leben niederzuschreiben. Als ihre Kräfte nachlassen und die rechte Hand erlahmt, beendet sie nach 540 Seiten ihre Aufzeichnungen. Die letzten Jahre verbringt sie bei ihrer ältesten Tochter Vera im Dorf Moty nahe Irkutsk. Bei ihrem Tod im April 2002 hinterlässt sie Kindern und Enkeln ein handgeschriebenes und reich bebildertes Buch, das wohl nie veröffentlicht werden wird: die Geschichte einer Frau, der als Kind ein Leben in gesellschaftlicher Anerkennung vorgezeichnet schien, bis sie ins Visier der vermeintlichen Revolutionshüter geriet. Das Schicksalsjahr 1937 brachte die Wende in ihrem Leben.

Chicago 1916: In Europa herrscht Krieg, und in Amerika machen sich die Menschen Gedanken, wie sie die Not in den Kriegsgebieten lindern können. Einer von ihnen ist der Philosophieprofessor Julius Hecker. Er beschließt, für das Rote Kreuz nach Europa zu gehen und in Gefangenenlagern Hilfe zu leisten. Für ihn und seine Frau Elisabeth ist es eine Rückkehr: Julius stammt aus St. Petersburg, Elisabeth aus Frankfurt am Main. Beide haben sich als Studenten an der Columbia Universität in New York kennen gelernt. Die beiden ältesten Töchter Alisa, die zeitlebens wegen Kinderlähmung behindert sein wird, und Marsela, die heute in Moskau ihren Lebensabend verbringt, sind hier zur Welt gekommen.

Die Familie lebt inzwischen in Chicago. Fünf Monate vor der Abreise nach Europa wird Irmgardt geboren, die ihre ersten drei Lebensjahre gemeinsam mit den Eltern und Schwestern in Österreich, später in Genf und Lausanne und schließlich in Potsdam verbringen wird. Als die Familie 1919 Europa verlässt und in die USA zurückkehrt, liegt die Revolution in Russland bereits zwei Jahre zurück. Julius Hecker, der einst eine Doktorarbeit zum Thema „Russische Soziologie“ verfasst hat, fühlt sich den neuen Verhältnissen verbunden und reist hin und wieder nach Russland.

Die Wende für die Familie - inzwischen sind zwei weitere Töchter, Olga und Vera, geboren – bahnt sich im Jahr 1922 an. Bei einer seiner Russlandreisen lernt Julius Hecker Anatoli Lunacharsky kennen, jenen begnadeten Redner, der als Bildungskommissar die Aufgabe hat, das russische Erziehungssystem zu erneuern. Der Politiker, der viele Jahre im Schweizer Exil verbracht hat, überzeugt Hecker von der Aufgabe, den Analphabetismus in der Sowjetunion zu bekämpfen und Bildung für alle möglich zu machen. Hecker nimmt das Angebot, an diesem großen Ziel mitzuwirken, erfreut an. Die Familie verlässt Amerika erneut und reist nach  Moskau. Hecker erhält eine Professur an einer Hochschule, unterrichtet Philosophie und Geschichte, verfasst mehrere Bücher über das neue Russland und erhält 1925 die sowjetische Staatsbürgerschaft.

Moskau 1937: Das sorgenfreie Leben nimmt ein jähes Ende. Julius Hecker wird verhaftet, wenig später führt man seine Frau Elisabeth ab. Gründe werden nicht genannt. Irmgardt, die von einem Beamten des Moskauer Meldeamtes kurzerhand und offiziell in Irma umbenannt worden ist, ist gerade volljährig und seit zwei Jahren talentierte Studentin am Kunsttechnikum in Moskau. Als die Verhaftung ihrer Eltern bekannt wird, verliert sie ihre Mitgliedschaft in der sowjetischen Jugendorganisation. Ihr wird allerdings gestattet, die Diplomarbeit an der Akademie fortzusetzen. Diese Erlaubnis ist jedoch nicht von Dauer. Zum Kriegsbeginn meldet Irma sich freiwillig, als Krankenschwester verwundete Soldaten zu betreuen, und trägt auf dem Bewerbungsbogen als Nationalität ein: „Deutsche“. Das bedeutet das Ende ihrer Kunstausbildung, denn zum Unterricht wird sie ab sofort nicht mehr zugelassen.

In ihren Erinnerungen nimmt der 10. September 1941 einen besonderen Platz ein: „Am Haus sind zwei Autos vorgefahren. Mich und meine Schwester haben die Geheimdienstleute in verschiedene Zimmer gebracht, uns untersucht und schließlich verlangt, unsere Sachen zu packen. Zuerst ging es in die Petrovka-Straße, dann ins Novinskaja-Frauengefängnis am Sadovy-Ring. Dort begann das Verhör.“ Die beiden Schwestern gelten als ‚Volksfeinde’, ihnen wird Agitation vorgeworfen.

Die Anschuldigungen reichen, Irma gemeinsam mit zahlreichen weiteren Häftlingen kurzerhand in Waggons zu werfen und nach Kirgisien zu verfrachten. Nach 24 Tagen kommt der Transport in Frunse an, heute Bischkek. Irma blickt zurück: Zu den Glücklichen zählen die vielen Gefangenen, für die der Leidensweg noch während der Fahrt endet, die an Erschöpfung und Hunger sterben; die Unglücklichen sind die, die zum Weiterleben verurteilt sind oder die die Schicksalswende in den Wahnsinn getrieben hat.

Aus dem Zellenfenster ihres Gefängnisses in Frunse kann Irma die Gipfel des Tjan-Schan-Gebirges erkennen. Und sie beginnt zu zeichnen – Miniaturen auf kleinen Blättern Zigarettenpapier. Monate vergehen, bis im Frühjahr 1942 ein Urteil gesprochen wird: Fünf Jahre Lagerhaft in Sibirien wegen antisowjetischer Agitation. Wenige Tage später setzt sich ein Zug mit ausgemergelten Verurteilten in Bewegung nach Norden – das Ziel ist ein Gefangenenlager in Mariinsk, Gebiet Krasnojarsk. Den Transport, schreibt Irma später, habe sie nur überlebt, weil ein Soldat ihr heimlich Äpfel zusteckt und etwas Tee zu trinken gibt.

In Mariinsk gibt es Werkstätten, wo sich die Gefangenen betätigen können. Irma malt: Portraits der Lagerverwalter und ihrer Frauen, Portraits von Mitgefangenen, Impressionen aus dem bedrückenden Lagerleben. Unter den Bildern, die die Zeiten überdauert haben, ist auch ein Portrait von Sergej. Sergej Chudjakow genießt Privilegien im Lager. Unter den Kriminellen ist der Einarmige eine Autorität – kein Vergleich mit der elenden Lage der politischen Gefangenen. Zwei Ausbruchversuche sind  schief gegangen, doch in den Augen der Mitgefangenen verschafft ihm sein Mut Ansehen. Ihm verdankt Irma, dass sie die Zeit im Mariinsk lebend übersteht. Ohne ihn hätte auch Vera, die gemeinsame Tochter, die Ende 1944 zur Welt kommt, kaum überlebt. Das bescheidene Glück des jungen Paars währt nicht lange. Sergej wird auf Beschluss einer Sonderkommission entlassen, Irma bleibt mit der Tochter im Lager zurück.

Zwei Jahre dauert die Trennung von Sergej, dann nimmt das Schicksal doch noch eine glückliche Wendung. 1947 wird Irma entlassen und kann endlich mit Sergej zusammen sein, allerdings nur in einem entlegenen Dorf im Gebiet Kemerovo. Erst mit dem Tod Stalins kommt die Erlaubnis, in die Stadt Irkutsk zu ziehen. Für Irma beginnt ein neues Leben, sie unterrichtet an der Fachschule für Kunst – der Verband der Künstler bleibt ihr weiterhin verschlossen, da sie politische Gefangene war -, Sergej begleitet geologische Expeditionen ins Sajanen-Gebirge. Zwei Söhne, Julii und Sergej, kommen zur Welt.

Irma, die im Alter von knapp 50 Jahren bereits lockiges weißes Haar hat, was ihr den Beinamen ‚Greisin mit der Mütze’ einbringt, entdeckt ein neues Thema für ihre Malerei, als sie zum Baikal-See umziehen muss. Sergejs Gesundheit hat sich verschlechtert, und die Seeluft verschafft ihm Linderung. Als er im Jahr 1984 stirbt, hat sie eine Reihe von Alben fertig gestellt, darunter Bilder zu den Sajanen und eine Sammlung mit dem Titel „Baikal – vier Jahreszeiten“. Noch eine Reihe von Jahren bleibt sie allein in der Ortschaft Maximiha am Ufer des Baikal, bis sie 1998 zu ihrer Tochter nach Moty, unweit von Irkutsk, zieht.

Als Irma Chudjakowa am 1. April 2002 stirbt, beschließt das Geologische Museum der Stadt Ulan-Ude, der ‚Greisin mit der Mütze’ eine ständige Ausstellung zu widmen. (© ORNIS, 13. November 2005)


Nachtrag: Die Nachfahren von Irmgardt Hecker (Irma Chudjakowa) in Irkutsk suchen noch heute nach Verwandten ihrer Mutter in den USA und in Deutschland. Weitere Einzelheiten sind über die ORNIS-Redaktion zu erfahren.


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