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Gelobtes Land

Besuch in einer weit entfernten Heimat
Gelobtes Land Katharina-Denkmal in Marx
Foto: Alexander Reiser

Eine Reise in die Vergangenheit haben in Deutschland lebende Aussiedler unternommen. An der Wolga besuchten sie Orte, mit denen einige noch persönliche Erinnerungen verbanden und die anderen aus Erzählungen von Eltern und Großeltern vertraut waren. Ornis-Autor Alexander Reiser war dabei und besuchte erstmals das frühere Dorf Pfeifer, den Heimatort seiner Vorfahren. Doch zuvor nahmen die Reisenden an einer Konferenz teil, die bei manchen Erinnerungen an die Zeit vor der Perestrojka wach rief.

Von Alexander Reiser

Berlin, im Oktober 2011 - Seit langem hatte ich mir vorgenommen, in das Dorf an der Wolga zu fahren, aus dem meine Eltern stammen und von dem ich in der Kindheit so viel gehört hatte. Darum war ich sofort einverstanden, als mir angetragen wurde, als Mitglied der offiziellen Delegation der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Ende August die Stätten unserer Vorfahren zu besuchen und an Gedenkveranstaltungen aus Anlass des 70. Jahrestages der Deportation der Wolgadeutschen teilzunehmen.

Von Berlin nach Moskau flogen wir mit einem Airbus – auf der Inlandstrecke  mit einer betagten Jak 42 aus Sowjetzeiten. Überhaupt hatten wir, die wir Russland vor fast zwei Jahrzehnten als Aussiedler verlassen hatten, an den ersten Tagen vielfach den Eindruck, hier sei die Zeit stehen geblieben. Auch Saratow, das Gebietszentrum - nach den Fassaden der alten Häuser und Villen zu urteilen mit ihren abgeplatzten, teilweise abgebröckelten Stukkaturen -, hatte einmal bessere Tage erlebt.

Während man in Moskau all die Symbole eines dynamischen westlichen Lebens wahrnimmt, erhebt sich hier etwa auf dem zentralen Platz Saratows immer noch eine meterhohe Leninstatue; daneben rühmt ein Panneau an der Front des Verwaltungsgebäudes die Helden der Revolution.

Denkmaleinweihung in Anwesenheit des deutschen Ausiedler- beauftragten Christoph Bergner

Wie zu Sowjetzeiten

Dass die Zeit in der Tat stehen geblieben sein könnte, zeigte uns der Eröffnungsvortrag der wissenschaftlich–historischen Konferenz „70-jähriges Jubiläum des Beginns des Großen Vaterländischen Krieges und die Deportation der Russlanddeutschen“, den der Historiker Viktor N. Danilov hielt. Der Direktor des Instituts für Geschichte und Internationale Beziehungen an der Staatlichen Universität Saratow bewertete Stalin überschwänglich als Schlüsselfigur des Sieges und rechtfertigte die Verschleppung der Wolgadeutschen zu Kriegsbeginn mit dem Überfall der Nazi-Wehrmacht auf die Sowjetunion.

Ich bin überzeugt, dass dieser Vortrag vor 20 oder 30 Jahren Wort für Wort in den Vorlesungen zur Geschichte der KPdSU so hätte gehalten werden können – womöglich gar gehalten wurde -, als hätte es keine Perestrojka gegeben und als hingen an den Türen zu den einbruchssicheren Archiven immer noch schwere Schlösser.

Die unterstellte Legitimität „der Übersiedlung der Sowjetdeutschen“ im Zusammenhang mit dem Kriegsbeginn war ein ständig wiederholtes Mantra der Konferenz, die dem tragischem Datum der Deportation gewidmet war.

Maxim Trawnikow

So erklärte der stellvertretende Minister für Regionalentwicklung, Maxim Trawnikow, das Schicksal der Russlanddeutschen sei nicht von der Sowjetmacht beschlossen worden, sondern das „hatte ein deutscher Politiker schon 20 Jahre vor der Deportation in seinem Buch vorbestimmt“.

Was Trawnikow unerwähnt ließ: Verschleppt wurden die Russlanddeutschen nicht auf Befehl des Deutschen Reiches, sie wurden deportiert auf Anweisung ihres eigenen Heimatstaates, seiner Machthaber und seines Geheimdienstes NKWD.

Versöhnliche Töne

Trotz der umstrittenen Äußerungen von Seiten offizieller Vertreter Russlands anerkannten sie in ihren Stellungnahmen allerdings auch, dass die Deportation der Russlanddeutschen eine Tragödie für die Bevölkerungsgruppe bedeutete.

Derartige Auslassungen haben die Reisenden aus Deutschland kaum beeindruckt. Für sie war es erstaunlich und überraschend zugleich, dass es überhaupt möglich geworden war, im Wolgagebiet eine Reihe von bemerkenswerten Veranstaltungen für die Rehabilitation der Russlanddeutschen durchzuführen.

Dem Internationalen Verband der deutsche Kultur in Moskau war gelungen, mehreren hundert betagten Menschen aus allen Verbannungsorten Russlands die Gelegenheit zu geben, noch einmal in ihrem Leben einen Fuß auf den Boden ihrer früheren Heimat zu setzen.

Denkmal für die ...
... Opfer der Repression; Foto: Alexander Reiser

Engels: Denkmal für die Opfer

Die Reisegruppe aus Deutschland nahm während des Aufenthaltes in Saratow an einer Kranzniederlegung am Siegesdenkmal auf dem Falkenberg teil. Wenn sie  ihr eigenes Schicksal betrauerten, haben Russlanddeutsche immer auch der Tragödie von Russen und anderen Völkern der UdSSR im Krieg gedacht. Später setzte man zum anderen Ufer der Wolga über, nach Engels, wo feierlich ein Denkmal für „die Russlanddeutschen, die Opfer der Repression in der UdSSR“ eingeweiht wurde.

Die Zeremonie im Zentrum der ehemaligen Hauptstadt der Autonomen  Wolgarepublik, gleich neben dem staatlichen Archiv der Wolgadeutschen, war für viele Teilnehmer ergreifend. Veteranen der Arbeitsarmee, aber auch junge Leute traten an das Denkmal heran, um eine Handvoll Erde auszustreuen, die eigens von den Orten der „ewigen Verbannung“ herbeigebracht worden war: Tjumen, Krasnojarsk, Aktjubinsk, Karaganda, Omsk, Syktywkar, Kirov, Wologda.

Höhepunkt des Aufenthaltes an der Wolga waren für die aus Deutschland angereisten Aussiedler die Besuche in den ehemaligen deutschen Dörfern, in denen sie selbst oder ihre Vorfahren bis zur Deportation gelebt hatten. Unsere Gruppe, Russlanddeutsche aus dem ehemaligen Balcer–Kanton, reiste  in die Stadt Krasnoarmejsk, ehedem Balcer, wo uns der Leiter der Kreisverwaltung erwartete.

Freundlicher Empfang

Im Heimatmuseum gibt es noch heute eine Vielzahl von Gegenständen und Dokumenten, die das Leben und Schaffen der deutschen Kolonisten dokumentieren. Im deutsche Kulturzentrum und beim Gang durch die Straßen werden bei Vielen Erinnerungen wach geworden sein, sei es aus Erzählungen oder selbst Erlebtem.

In allen ehemaligen deutschen Dörfern wurden die Besucher ohne Vorbehalte und mit großem Entgegenkommen begrüßt. Die heutigen Bewohner drückten gar ihr Mitgefühl für die Ungerechtigkeit aus, die die Russlanddeutschen vor 70 Jahren erlitten haben. Manche dankten uns, den Nachkommen, noch nachträglich für die Häuser, die Wirtschaftsgebäude, die bearbeiteten Felder, die damals zurückgelassen wurden.

Pfeifer heute; Foto: Alexander Reiser

Über das Dorf Pfeifer an der Grenze des Saratower und des Wolgograder Gebietes, woher meine Vorfahren stammen, erzählte meine Großmutter Magdalena Reiser, immer wie von einem gelobten Land. Bis zu ihrem Tod träumte sie davon, einmal hierher, wo sie ihre glücklichsten Jahre verlebt hat, zurückzukehren - und sei es nur für einen kurzen Augenblick.

Unerfüllte Träume

An die Wolga zurückzukehren, davon träumten auch meine Großeltern  mütterlicherseits, Katarina und Gottfried Schtechmann, ebenfalls in Pfeifer geboren. Aber sie alle starben mit ihrem unerfüllten Traum im fernen Omsker Gebiet, ohne jemals wieder die Luft ihrer verlorenen Heimat gespürt zu haben, die, wie sie sagten, nach Schwüle, Wehmut und Wolga duftet.

Heute heißt die Siedlung Pfeifer Gwardejskoje. Sie liegt an einem malerischen Platz am Ufer des kleinen Flüsschens Ilovli.

Kirchnruine in Kamenka unweit von Marx; Foto:Alexander Reiser

Einst wohnten in dieser Kolonie annähernd viertausend Menschen. Sie arbeiteten als Weber, Wagenbauer, Ziegelhersteller, Bäcker, Viehzüchter und Händler. Heute gibt es in der kleinen Siedlung noch ein paar Dutzend Höfe.

Auch die üppigen Gärten entlang des Flusses, von denen frühere Bewohner schwärmten, gibt es nicht mehr, die Mühlen sind verschwunden, ebenso die Ölmanufakturen, die Kirche ist zerstört, Geschäfte sucht man vergebens. Die wenigen baufälligen Gebäude geben Fragen auf, wie und wovon die Bewohner eigentlich überleben.

Nur noch wenige Spuren

Das Einzige, was von den deutschen Kolonisten übriggeblieben ist, ist das steinerne Gebäude eines ehemaligen Ladens, in dem einst meine Großmutter gearbeitet hat. Auch drei alte Holzhäuser trotzen noch dem Verfall. So wie in der ehemaligen Siedlung Pfeifer sieht es auch in den übrigen einst blühenden Dörfern der deutschen Kolonisten aus, die wir besucht haben.

Zu den wenigen Orten, in denen die Erinnerung an die Vergangenheit auch äußerlich noch erhalten geblieben ist, zählt die Stadt Marx, ehemals Katharinenstadt. Hier endete unsere Reise.

Regisseur Dmitry Lunkov aus Saratow

In Marx wird das großartige Gebäude der lutherischen Kirche restauriert, in der am 28. August katholische, protestantische und orthodoxe Priester einen gemeinsamen Gottesdienst zum Gedenken an die Deportierten gefeiert haben. In Marx gibt es auch ein deutsches Kulturzentrum.

Erinnert wurde an den Film des aus Saratow stammenden Regisseurs Dmitri Lunkov „Die Russlanddeutschen“, den er in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts produziert hat. Lunkov ist ein mutiger Film gelungen über die deutschen Nachbarn und Freunde, die als Überlebende des Dramas der Deportation ihre Heimat in Richtung Deutschland verlassen haben.

Auf dem Rückflug nach Deutschland lag an Bord die aktuelle Ausgabe der Gebietszeitung „Neue Zeit“ aus. Das Wochenblatt aus Saratow widmete sich in einem Leitartikel dem Besuch der russlanddeutschen Aussiedler aus Deutschland. Die Überschrift lautete: „Wir erinnern uns an alles – wir trauern gemeinsam“.

 
Ihre Meinung

Wolfgang Lell, 11.06.2012 01:11:17:

Hallo, da habe ich ja einen interessanten Beitrag gefunden. Mein Vater Benedikt Lell stammt auch aus Pfeifer, ist dort geboren. Meine Großeltern hatten die Mühle in Pfeiffer, ich habe alte Dokumente aus der Zeit über Umwege bekommen. Alle Verwandten meines Vaters wohnen heute in Kemerowo und Umgebung, so weit ich erfahren konnte. Ich würde gerne mehr über Pfeiffer erfahren. Grüße. W.Lell: lel

Emma Rische, 27.11.2011 19:57:55:

Danke, Alexander für den Beitrag. Vor 21 Jahren wurde meine Gruppe bespuckt, die Kamera aus der Hand gerissen. Du hattest mehr Glück. Die verwahrlosten Dörfer machten schon damals einen deprimierenden Eindruck, deswegen fuhr ich diesmal nicht mit. Unsere Eltern, Vorfahren sollen weiter in Erinnerungen leben, die wir niederschreiben müssen.


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Zum Autor

Alexander Reiser, 1962 in einer russlanddeutschen Familie in Sibirien geboren, ist zur See gefahren und hat als Jäger die Taiga durchstreift, bis er in der Pazifikstadt Wladiwostok ein Journalistik-Studium absolvierte. Seit Ende der neunziger Jahre lebt der Schriftsteller mit seiner Familie in Berlin.