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Für immer russlanddeutsch?

Gedanken über eine besondere Migrantengruppe
Für immer russlanddeutsch? Olena Belinska gehört zur jungen Generation Russlanddeutscher in Deutschland
Foto: Michael Miethe

Warum ärgern sie sich nur, wenn sie in Deutschland zuweilen als Russen bezeichnet werden? Ist doch halb so schlimm, meint Andreas Keller, und wirbt für mehr Gelassenheit bei Russlanddeutschen. Es gibt reichlich Gründe, selbstbewusst zu sein. Hier sind einige davon.

Von Andreas Keller

St. Petersburg, im August 2011 - Die Frage, ob und wie die Russlanddeutschen eine Volksgruppe werden können oder bereits sind, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Eine Volksgruppe ist nach internationalem Recht eine nationale Minderheit. Die Russlanddeutschen können jedoch als Deutsche keine „nationale Minderheit“ unter Deutschen sein.

Zwar haben Russlanddeutsche eigene Trachten, Dialekte und kulturelle Merkmale. Doch das haben auch die Bayern, die Württemberger oder die Friesen. Und so, wie die Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien die Sudetendeutsche Volksgruppe bilden, formen Schwarzmeer-, Wolyhnien-, Wolga-, Karpaten-, Sibirien-, Kaukasusdeutsche und andere den Sammelbegriff Russlanddeutsche, die in der Bundesrepublik heute mit rund 2,5 Millionen Bürgern vertreten sind.
 
Zudem hat der Begriff Volksgruppe auch viel mit der deutschen Geschichte zu tun. Die verbrecherische Volksgruppenpolitik der Nationalsozialisten hat diesen Begriff missbraucht und mit Merkmalen versehen, die nicht ohne weiteres erlauben, ihn auf heutige Verhältnisse zu übertragen. Das würde unter anderem die Ab- oder Ausgrenzung anderer Bevölkerungsgruppen und die Bildung ethnisch homogener Staaten bedeuten. Deshalb möchte ich den Begriff einer „Volksgruppe“ für die Russlanddeutschen nicht verwenden, sondern den einer soziokulturellen Gemeinschaft.

Selbstverständnis

Dabei haben die Russlanddeutschen ein ausgeprägtes Bewusstsein eigener Besonderheit. Es resultiert vor allem aus ihrer Geschichte in Russland. Hier wurden sie ja nicht nur verfolgt, sondern genossen bis in die 1870er Jahre eigenständige Verwaltungen und Privilegien und bildeten bis 1917 eine Elite, die in Wissenschaft und Kultur, im Staat und in der Wirtschaft eine bedeutende Rolle spielte. Prominentestes Beispiel ist die Prinzessin Sophie Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst, die von 1762 bis zu ihrem Tod 1796 als Katharina II. Zarin des Russischen Reiches war.

Dass sich heute die Deutschen aus Russland irritiert fühlen, wenn sie in Deutschland nicht als Deutsche identifiziert werden, hat nichts mit Nationalismus zu tun, sondern mit ihrem Selbstverständnis. Für sie war es eine Selbstverständlichkeit, dass sie in Russland als Deutsche gesehen wurden. Sie wurden auch einzig und allein dafür vertrieben, dass sie Deutsche waren.

Dass sie in Deutschland oft als Russen stigmatisiert werden, ist halb so schlimm, weil es sich um eine Fremdzuschreibung handelt, die nicht immer negativ belegt ist. Viel wichtiger ist, wie sich die Deutschen aus Russland selbst sehen. Es ist ja bekannt, dass Menschen, die außerhalb ihrer Kulturgemeinschaft im Ausland leben, häufig ein besonders intensives Verhältnis zu ihrem Herkunftsland entwickeln. Viele Deutsche sind dann in ihrem Selbstverständnis deutscher als die Deutschen selbst.

Integration

Die Integration kann nur gelingen, wenn sich beide Seiten darum bemühen, sich dem anderen gegenüber zu öffnen. Tatsache aber ist, dass die bundesdeutsche Gesellschaft zwar von Anfang an als eine offene Gesellschaft proklamiert wurde, diese jedoch tatsächlich erst seit den 1990er Jahren Gestalt annahm. Eine proklamierte und eine gelebte offene Gesellschaft sind zwei verschiedene Sachen.

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass der Integrationsbegriff zu abgegriffen ist. Ich meine, dass es nötig ist, dem Begriff neue Inhalte und Formen zu geben. Die Forschungsergebnisse sprechen für sich: Laut einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung aus dem Jahr 2008 weisen die Aussiedler gute Integrationswerte auf.

Sie finden sich relativ gut auf dem Arbeitsmarkt zurecht und bemühen sich aktiv um ihre Integration. Mit Pauken und Trompeten wurde diese gute Botschaft weitergegeben - mit dem Unterton: Bei uns ist alles bestens. Dabei wurde übersehen, dass es sich bei den Ergebnissen der Studie natürlich um Durchschnittswerte handelt.
 
Migranten besonderer Art

Deshalb ist es auch keine Verleumdung der Volksgruppe, wenn ein Journalist über kriminell gewordene Russlanddeutsche berichtet. Versucht er doch, ein Phänomen zu verstehen und auszuleuchten, das großen Erklärungsbedarf hat. Das ist dann keine Volksverhetzung, sondern eine nüchterne Bestandsaufnahme, ohne die bestimmten Problemen nicht beizukommen wäre.

Ein anderes Thema betrifft den Stolz, ein Deutscher zu sein. Hilft es mir denn, andere Menschen besser zu verstehen oder gegenseitige Achtung zu erlangen, wenn ich stolz auf meine Nationalität bin? Ich würde lieber von der Freude sprechen. Freude, in einem Land zu leben, in dem solche Worte wie Demokratie, Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten und Pflichten keine hohlen Begriffe sind, in dem die Zivilgesellschaft ihre festen Fundamente hat.

Das Begriffspaar Migranten und Aussiedler wird unter letzteren ungern zusammen geführt. Die Aussiedler sind zwar die einzigen Migranten, die Deutsche sind. Es spricht jedoch nichts dagegen, sie ebenfalls als Zuwanderer zu bezeichnen, wenn es um Zusammenarbeit und Erfahrungsaustausch mit anderen geht, die gleichermaßen Integrationsprobleme haben.

Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass es eine große Vielfalt russlanddeutscher Vereine und Gesellschaften gibt, die sich in nur wenigen Jahren entwickelt haben. Sie üben beratende Funktionen aus, leisten in wachsendem Maße Integrationsarbeit und spielen auf kommunaler, regionaler und Bundesebene eine immer größere Rolle.

Anders unter Gleichen

Dies spricht dafür, dass die Russlanddeutschen im Begriff sind, eine wichtige Position in der deutschen Gesellschaft aufzubauen, um eigene Interessen angemessen zu vertreten. Die Diffamierung und Instrumentalisierung der Russlanddeutschen durch Massenmedien und populistische Politiker hat ihre Gründe in der vorübergehenden Unmündigkeit der Russlanddeutschen, die immer häufiger aber in der Lage sind, selbst ein deutliches Wort sprechen.

Wir haben in nur wenigen Jahren erlebt, wie sich in Deutschland eine große soziokulturelle Gemeinschaft von rund 2,5 Millionen Menschen gebildet hat. Diese Menschen sehen sich als vollwertige Bürger dieser Gesellschaft, die von ihrer Offenheit und Demokratie profitieren. Sie sehen sich in ihrem Selbstverständnis anders als die Einheimischen, sie unterscheiden sich durch ihre Geschichte, Herkunft und Sprache von der übrigen Bevölkerung.

Das sind die Faktoren, die das Selbstverständnis der Russlanddeutschen bestimmen und dafür bürgen, dass die Russlanddeutschen für längere Zeit eine besondere Bevölkerungsgruppe bleiben werden.

Wie lange und in welcher Form sie weiter besteht, lässt sich nicht voraussagen. Jeder Mensch entscheidet alleine darüber, womit er sich identifiziert und wie er seine und die kollektive Erinnerung mitgestaltet. Jeder Mensch fragt sich früher oder später, woher er kommt und wohin er geht. Die Russlanddeutschen sind eine sehr dynamische Bevölkerungsgruppe, die intensiv nach ihrem Platz in der deutschen Gesellschaft sucht.

 
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Ihre Meinung

andre, 17.12.2011 01:41:57:

wenn die Deutschen die Russlanddeutschen als Russen bezeichnen und diese als Menschen zweiter Klasse behandeln diskriminieren sie ihr eigenes Volk und damit sich selbst. Das ist einfach nur krank.

Gregor, 26.08.2011 23:51:47:

Oben erklärt der Autor ausführlich, warum er den Begriff "Volksgruppe" ablehnt, um ihn dann weiter unten doch zu benutzen. Wer hat übrigens übersehen, "dass es sich bei den Ergebnissen der Studie natürlich um Durchschnittswerte handelt"? Bitte konkreter werden. Leider ein verquaster Artikel ohne klare Linie.

Klemens Veit, 24.08.2011 19:11:57:

Mißverständnisse beginnen schon mit der fragwürdigen ethnischen Zuordnung.So sind etwa deutsche Auswanderer nach Amerika Deutschamerikaner, weil sie Amerikaner wurden, während deutsche Auswanderer nach Rußland "Rußlanddeutsche" sind, weil sie auch in Rußland Deutsche geblieben sind. So wäre nach meinem Verständnis auch Zarin Katharina II. eben keine Rußlanddeutsche, sondern Deutschrussin.

Viktor, 23.08.2011 12:09:33:

Danke, Andreas. Es freut mich, das du das Thema ruhig und gelassen noch mal angegangen bist. Leider, wird das in den Medien negativ instrumentalisiert. Siehe Report Mainz vom 10.11.10 oder Aktueller Bericht in SR vom 4.08.11. Da ist garnichts oder fast garnichts wahr. Da wird zwischen "Russen", "Russlanddeutschen" oder "Russischsprachigen" kein Unterschied gemacht. Wieso macht man so was?

Michael, 22.08.2011 22:46:52:

Es wäre interessant zu untersuchen,warum und wie die Integration von Minderheiten wie Russlandgriechen,Russlandpolen,Russlandkoreanern,jüdischen Russen in Israel,Russen aus Kasachstan in Russland,Mescheten in der Türkei usw. in den jeweiligen Herkunfts- oder Auswanderungsländern funktionierte. Auch Politik und Medien sollten analysiert werden. Wo war Wohlwollen, wo wurde mit Vorurteilen hantiert?

Sanja, 22.08.2011 22:21:33:

Dass sich manchmal Russlanddeutsche ärgern,wenn sie in Deutschland Russen genannt werden hat mit 2 Dingen zu tun:zum einen wird das manchmal im abschätzigen Ton gesagt,zum anderen bestimmt durch diese Einordung wieder ein anderer was,wie oder wer die Russlanddeutschen sein sollen; und spricht ihnen so ihre Identität indirekt ab. Und das ist anmaßend und nicht weltoffen.

Mela, 22.08.2011 22:12:19:

Meiner Ansicht nach sind Russlanddeutsche eine der nationalen Minderheiten(es gibt einige in der ehemaligen SU).Sie haben alles recht "zu existieren",und haben dies über Jahrhunderte getan.Die Entwicklungen,aus den Staaten der ehemal. SU ethnisch und kulturell homogene Entitäten zu erzwingen,finde ich falsch.Russlanddeutsche benötigen in der Tat mehr Selbstbewusstsein.


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Zum Autor

Andreas Keller, 1963 in Volosovo/Leningrader Gebiet geboren, studierte Geschichte in St. Petersburg und Freiburg im Breisgau. Er promovierten im Jahr 2000 im Fach Osteuropäische Geschichte. Zeitweilig war er als Dozent für russische Geschichte am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin tätig.

Seit 1996 ist er schriftstellerisch  - russisch und deutsch - tätig und wirkte darüber hinaus bei Aktivitäten der Städtepartnerschaft Stuttgart-Samara mit. Keller lebt seit 2010 in St. Petersburg.

 

Bilder


die Bilder zeigen Impressionen aus der Ausstellung "Volk auf dem Weg" in Potsdam (2009)

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