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Von Jürg Vollmer / maiak.info
Rostow am Don, im August 2010 - Es ist für Russland ungewöhnlich, dass eine unabhängige Druckerei in der Provinz vierzig Blätter mit einer Million Gesamtauflage druckt, vom alternativen Gesundheitsmagazin bis zur kritischen Wochenzeitung.
Es ist für Russland ungewöhnlich, dass diese unabhängige Wochenzeitung mit dem Namen “Krestjanin” eine eigene Recherche-Abteilung hat, die Woche für Woche den lokalen Autoritäten dort auf den Zehen steht.
Irina Samochina
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Von der “Prawda” zum “Krestjanin”
All dies ist ungewöhnlich für Russland, dessen Medien von Männern geführt und vom Staat oder von Oligarchen finanziert werden. Genau so ungewöhnlich wie die Frau, die hinter diesem unabhängigen Verlag und der kritischen Wochenzeitung steht.
Irina Samochina wurde 1971 in Kursk geboren, geografisch und geschichtlich mitten in der Sowjetunion. Ihr Vater war Redakteur der “Prawda”, Zentralorgan der Kommunistischen Partei, und gründete nach dem Ende der Sowjetunion 1991 in Rostow am Don die unabhängige Wochenzeitung “Krestjanin”. Eine der ersten Redakteurinnen wurde seine Tochter Irina, die Journalismus studiert hatte.
Nach dem Studienabschluss 1992 plazierte er Irina Samochina aber nicht in der Redaktion, sondern in der Anzeigenabteilung des “Krestjanin”. 1994 wurde sie Leiterin der Anzeigenabteilung und 1996 absolvierte sie ein sechsmonatiges Praktikum in Deutschland, “das mich persönlich und beruflich stark geprägt” hat, erklärt Irina Samochina.
Das Praktikum war für die junge Journalistin wie für den jungen Verlag eine gute Investition. Heute ist Irina Samochina Generaldirektorin des Verlagshauses “Krestjanin” in Rostow. Der grösste unabhängige Verlag im Süden Russlands produziert in seiner eigenen Druckerei vierzig Blätter mit einer Million Gesamtauflage, darunter die kritische Wochenzeitung “Krestjanin”.
“Krestjanin” behauptet sich gegen die Obrigkeit
Die Stadt Rostow gilt als Industriezentrum, das Rostower Gebiet ist wegen seiner fruchtbaren Schwarzerde aber landwirtschaftlich geprägt. Zudem sind viele Stadtbewohner als Selbstversorger in ihrer Datscha so genannte Subsistenz-Bauern.
Sie bilden die Leserschaft von “Krestjanin”, was auch in dem stolzen Namen des Blattes zum Ausdruck kommt: Als Krestjanin bezeichnen sich seit der Herrschaft der muslimischen Tataren vom 13. bis ins 16. Jahrhundert die aufsässigen russischen Ackerbauern, die meist Christen waren.
Der “Krestjanin” verkauft wöchentlich 24.000 Exemplare mit 32 Seiten. Für eine Stadt mit einer Million Einwohnern ist dies auf den ersten Blick keine grosse Auflage. “Es lesen aber nur 9,6 Prozent der Russen eine Tageszeitung, und unsere staatliche Konkurrenz kann mit der grossen Kelle anrühren”, erklärt Irina Samochina.
So lässt zum Beispiel die Regierung des Rostower Gebietes die Wochenendausgabe der “Rossijskaja Gaseta” in der Gebietshauptstadt Rostow kostenlos an alle Haushalte verteilen. Als Amtsblatt der russischen Regierung zählt sie nicht gerade zu den regierungskritischen Tageszeitungen.
Die Scheuklappen russischer Medien
“Wir können kritischer schreiben als die anderen Zeitungen, weil wir nicht dem Bürgermeister von Rostow gehören, nicht dem Gouverneur des Rostower Gebietes und auch nicht dem Kreml!” Irina Samochina stemmt ihre Armee in die Hüften und signalisiert unmissverständlich, wer beim “Krestjanin” den Kurs bestimmt.
Blick in die Druckerei
Foto: Krestjanin |
Tatsächlich kontrolliert der Staat die meisten Medien direkt auf nationaler oder lokaler Ebene, indirekt über staatliche Unternehmen oder staatstreue Unternehmer. Deshalb haben die Medien in Russland viel stärker als in Westeuropa den Blickwinkel ihres Herausgebers: “Und der ist oft so eng, dass zwischen den Scheuklappen nur die Staatsraison Platz findet,” sagt Irina Samochina.
Sie ist stolz auf die Arbeit ihrer kleinen aber unabhängigen Redaktion: Auf die aufmüpfige Kolumne “Monologe mit Putin” von Marat Usenko und die eigene Recherche-Abteilung des “Krestjanin”, die jede Woche ein neues Thema kritisch beleuchtet.
Die erfolgreiche Recherche-Abteilung des “Krestjanin”
Zum Beispiel den Erpressungsversuch des Staatsanwaltes, der vom erfolgreichsten Agrarunternehmer des Rostower Gebietes einen “Zehnten” verlangte, wie ihn früher die Bauern der Obrigkeit abliefern mussten. Als sich der Unternehmer wehrte, wurde er mit einer fadenscheinigen Begründung zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt.
“Krestjanin” recherchierte und berichtete in einer gut dokumentierten Artikelserie darüber, dass in Rostow der Staatsanwalt im doppelten Sinne des Wortes für Erpressungen zuständig ist. Den Justizbehörden blieb nichts anderes übrig, als den Agrarunternehmer vorzeitig zu entlassen.
Blick in die Druckerei
Foto: Krestjanin |
Die Freude des Staatsanwaltes über diese journalistische Leistung hielt sich in Grenzen. Das wusste auch der Agrarunternehmer, der nach seiner Freilassung den “Krestjanin”-Redakteuren eine Ikone schenkte – mit den Worten: „Ich mache mir grosse Sorgen um Euch!“
Eigene Druckerei und Redaktionsbüros machen “Krestjanin” unabhängig
Noch vor ein paar Jahren hätte die staatliche Druckerei mal kein Zeitungspapier für den Druck von “Krestjanin”, mal hat die Justiz die druckfrische Auflage direkt zum Altpapier gebracht. Deshalb baute Irina Samochina im Jahre 2005 eine eigene Druckerei.
Sie investierte aber auch in die Redaktion, die in einem modernen Bürogebäude im Stadtzentrum von Rostow arbeitet: Sie rüstete die 15 Redakteure mit Computern und Kommunikationsmitteln aus.
Allein mit den Verkaufseinnahmen des “Krestjanin” wäre dies unmöglich. Das Abonnement kostet jährlich nur 680 Rubel, umgerechnet 18 Euro für 52 Ausgaben, mehr könnte sich die ländliche Bevölkerung gar nicht leisten.
Der “Krestjanin” erhält Kredite vom Media Development Loan Fund MDLF, der vom ungarisch-amerikanischen Financier George Soros, von der Bank Vontobel und der schweizerischen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA finanziert wird. Und Irina Samochina nutzt für ihre kritische Wochenzeitung eine Quersubventionierung mit den Einnahmen aus ihren vierzig Zeitschriften. Die Gratisblätter mit hoher Auflage wie “Die Hausapotheke” bringen mit ihren vielen Anzeigen hohe Einnahmen.
Blick in die Druckerei
Foto: Krestjanin |
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- Webauftritt von Krestjanin - Irina Wladimirowna Samochina |
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Irina Samochina ist Generaldirektorin des Verlagshauses „Krestjanin“ in Rostow am Don, dem größten im Süden Russlands. Der Verlag mit eigener Druckerei ist Herausgeber von sechs Zeitungen, darunter die überregionale Zeitung „Krestjanin“ (Der Bauer). Die Zeitung unterstützt die Entwicklung der privaten Landwirtschaft in Russland. 2008 wurde das Internet-Portal www.krestianin.ru gestartet. Irina Samochina absolvierte die Fakultät für Journalistik an der Staatlichen Universität Rostow und arbeitet seit dessen Gründung im Verlagshaus „Krestjanin“. 2007 war sie Präsidentin der Allianz der Unabhängigen Regional-Verleger in Moskau. |