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Berlin, im Januar 2010 - Ein rechtes Durcheinander herrschte in den deutschen Dörfern Russlands, die bald an der Wolga entstanden, nachdem Katharina die Große dazu eingeladen hatte, den fruchtbaren und fast menschenleeren Landstrich zu besiedeln. Die zugewanderten Bauern - zwischen 1764 und 1767 war ihre Zahl schon auf 23.000 angewachsen - mussten nicht nur mühsam den Boden bereiten für die ersten Ernten, sie kämpften auch mit Sprachproblemen innerhalb der eigenen Dörfer: Die Dialekte der Zuwanderer aus den deutschen Ländern waren zu verschieden.
Selten gesprochen: Hochdeutsch
Kamen die neuen Wolgabauern doch aus Hessen, der Pfalz, Württemberg, den Rheinlanden und vielen anderen Gegenden, etwa aus dem Elsass, aus Lothringen und aus der Schweiz. Die Mundarten reichten vom Schwäbischen, Bayerischen, Hessischen, Sächsischen bis zum ‚Platt’ der niederdeutschen Regionen. Allein im Wolgadörfchen Preuß siedelten Zugereiste aus 129 teils weit auseinander liegenden Herkunftsorten. Hochdeutsch, auf das man sich hätte verständigen können, war damals noch kaum verbreitet.
Sprachwissenschaftlerin am Institut für deutsche Sprache in Mannheim: Nina Berend
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Unter Spätaussiedlern ist das heute noch so. Vor allem ältere Menschen, die Deutsch nicht in Sprachkursen oder an der Universität, sondern in der Familie bei Eltern und Großeltern gelernt haben, verwenden Dialekte. Die Sprachwissenschaftlerin Nina Berend vom Institut für deutsche Sprache in Mannheim hat das neugierig gemacht. Seit vielen Jahren forscht die Linguistin, die selbst als Aussiedlerin nach Deutschland kam, über die Herkunft der russlanddeutschen Dialekte.
In einem Projekt zum Thema „Sprache und Dialekte der Deutschen in Russland in Geschichte und Gegenwart“ arbeitete sie mit russischen Kollegen an einer Untersuchung der russlanddeutschen Mundarten, die im Laufe der vergangenen Jahrhunderte hörbar russische Einsprengsel aufgenommen haben.
Wie aber war es zu Beginn der deutschen Ansiedlung in Russland, als die Kommunikation noch schwierig war? Man wusste sich zu helfen. Die Dialekte wurden wild gemischt, bis im Dorf oder in einer Ansammlung benachbarter Dörfer endlich Verständigung herrschte. Mit diesem „atemberaubenden Prozess“, so der Sprachwissenschaftler Peter Rosenberg in einer Studie der Viadrina-Universität in Frankfurt/Oder, beschäftigte sich später der namhafte wolgadeutsche Dialektforscher Georg Dinges.
Sprachforschung zu Fuß
Um Beispiele dafür zu finden, wie sich die Dialekte entwickelten, erwanderte er, der 1891 im Wolgadorf Blumenfeld geboren worden war, zwischen 1925 und 1929 sämtliche wolgadeutschen Mutterkolonien. Als Professor der Tschernyschewski-Universität in Saratow und Leiter der „Zentralstelle für die Erforschung der wolgadeutschen Mundarten“ in Engels ließ er sich aus Deutschland sprachwissenschaftliche Werke schicken und lud Kollegen zum wissenschaftlichen Diskurs ein.
Der russlanddeutsche Sprachforscher Georg Dinges als junger Student ...
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... und als Häftling im Jahr 1930
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Die leidenschaftliche Beschäftigung mit den Dialekten seiner Landsleute sollte ihm jedoch bald zum Verhängnis werden. Wegen „konterrevolutionärer Aktivitäten“ und „nationalistischer Propaganda“ wurde Dinges Ende Januar 1930 verhaftet. Nach zwei Jahren Untersuchungshaft wurde er nach Westsibirien verbannt, wo er sechs Monate später in Tomsk an Typhus starb. Seine Forschungsergebnisse aber sind bis heute gültig und werden auch von Nina Berend bestätigt.
Die Vermischung der Dialekte in den ersten hundert Jahren der Siedlungsgeschichte hat zwar eine Verständigung in den Dörfern ermöglicht. Doch ein eigenständiges ‚Russlanddeutsch’ für alle Ansiedlungen hat sich nicht entwickelt. Dazu war die Zeit zu kurz. „Die Deutschen in Russland haben Kolonien gebildet“, schreibt Peter Rosenberg, „jedoch nie eine einheitliche Sprachgemeinschaft.“
Die Folgen der Repression
Vollends behindert wurde der Weg zu einem allgemein verständlichen Russlanddeutsch durch die Deportationen der deutschstämmigen Bevölkerung 1941 nach Sibirien und Zentralasien. Die alten Dörfer lösten sich zwangsweise auf und setzten sich, wenn überhaupt, nach dem Krieg völlig neu zusammen mit Deutschen von der Wolga, aus dem Kaukasus, dem Schwarzmeergebiet oder von der Krim. Die unterbrochene Entwicklung der Dialekte wäre vielleicht wiederaufgenommen worden, wären sie überhaupt noch gesprochen worden. Denn fortan war es - jedenfalls in der Öffentlichkeit - verpönt, deutsch zu sprechen.
Mit den zumeist älteren Aussiedlern, die die russlanddeutschen Dialekte aus Kindheitstagen noch sprechen, geht die Erinnerung daran wohl bald verloren. Doch bis es soweit ist, will Nina Berend noch möglichst viel zusammentragen. Den jüngeren Generationen will sie mit ihrer Forschung ein Stück sprachlicher Heimat zurückgeben. Auch wenn sie für immer verloren ist.
Links zum Thema |
- Zur Person: Nina Berend - Zur Person: Peter Rosenberg |
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mehr zum Thema bei ORNIS: „Ätch hebb Lächer in mine nije strömp“ siehe auch: |
robert schleicher, 09.08.2012 18:49:47:
guten abend ich würde auch gerne wissen was meine gross eltern für ein dialekt sprechen mein opa meint sein wär schwäbisch meine oma hat ein anderen dialekt meinte mein vater zu mir meine oma kommt auch aus der wolga mein opa ist in kasachstan geboren.
Maria, 16.01.2010 02:11:54:
Die russlanddeutschen Dialekte sind noch nicht verloren. Es gibt immer noch Menschen, die sie sprechen. Sei es in Deutschland, Russland, Asien, oder Amerika. Es ist wichtig, dass diese Dialekte gepflegt und unterstützt werden, da sie ein Teil unser aller menschlicher Ausdrucksform sind. Hochdeutsch ok, russisch ok. Aber auch die sprichwörtlich süssen Dialekte haben eine Daseinsberechtigung.