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Von Boris Sokolow
Die Kampagne zum Kampf gegen die Verfälschung der Geschichte ist ja keine Erfindung der Bürokraten. Aber die russischen Behörden haben beschlossen, die Idee aufzugreifen und einen „Kanon der Geschichte des Vaterlandes“ aufzustellen, von dem Präsident Medwedjew bei seinem Besuch in Welikij Nowgorod sprach.*
Für den Anfang hat man erst einmal Paragraf 137 des Strafgesetzbuches über „das gesetzwidrige Sammeln von persönlichen Daten zu einer Person ohne deren Zustimmung, wodurch die private oder familiäre Sphäre verletzt wird“ als Geschütz der Zensur aufgefahren.
Gedenkbuch
Eben dieser Paragraf diente als Anlass, um ein Verfahren gegen den bekannten Archangelsker Historiker Michail Suprun einzuleiten, der an dem russisch-deutschen Gemeinschaftsprojekt „Die von Repressionen betroffenen ethnischen Deutschen in den 1940er-Jahren“ teilnimmt. Gleichzeitig hat man sich auch noch den Leiter des Informationszentrums der Verwaltung Inneres für das Verwaltungsgebiet Archangelsk, Oberst Dudarjew vorgenommen, der Suprun den Zugang zu den Quelldaten verfolgter Deutscher ermöglicht hat. Ihm wird Überschreitung der Dienstbefugnisse vorgeworfen.
Man hat hier die Regel zugrunde gelegt, nach der es verboten ist, vor Ablauf von 75 Jahren persönliche Daten aus Archiven ohne Zustimmung der von den diesen Daten betroffenen Personen preiszugeben. Es ist übrigens in diesem Zusammenhang zu keiner Preisgabe vertraulicher persönlicher Daten gekommen, denn die deutsche Seite, die die Forschungsarbeiten finanzierte, wollte das Gedenkbuch, das auf der von Suprun zusammengestellten Datenbank basieren sollte, ohnehin erst nach Ablauf der vom russischen Gesetzgeber vorgeschriebenen Frist veröffentlichen.
Hier sei die Anmerkung erlaubt, dass eine strenge Auslegung dieses Verbots die Veröffentlichung der meisten Archivdokumente aus der Zeit nach 1934, also gerade der finstersten Abschnitte der sowjetischen Geschichte in der Ära Stalins ausschließen würde. In fast jedem Dokument wird schließlich irgendeine Person genannt, oft geht es sogar um Dutzende oder sogar Hunderte Menschen. Sie alle oder deren Verwandte ausfindig zu machen, wäre ein so gewaltiger Aufwand, der selbst staatliche Stellen überfordern würde. Und wenn man es darauf anlegt, findet man immer ganz leicht irgendeinen Nachfahren, um ein Veröffentlichungsverbot durchzusetzen.
Wissenschaftsmonopol
Sollte es im Fall Suprun und Dudarjew zu einer Verurteilung kommen, würde das für die Wissenschaftler nicht nur den Spielraum für Veröffentlichungen einengen, sondern auch die Möglichkeiten, Kopien von Originaldokumenten anzufertigen, stark einschränken. In der Konsequenz müssten sie bei der Aufarbeitung der Geschichte der Sowjetgesellschaft auf bereits veröffentlichte Dokumente und Memoiren zurückgreifen.
Boris Sokolow
Foto: Grigorij Pasko |
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Boris Wadimowitsch Sokolow, Historiker und Literaturwissenschaftler. 1979 promovierte er an der Staatsuniversität Moskau. Er arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Weltliteratur und Professor an der Akademie für Slawische Kultur. In den 1990er-Jahren hat er Forschungen über Beria, Stalin, Molotow und Breschnew veröffentlicht. Er zählt zu jenen russischen Historikern, die die Handlungen der sowjetischen Staats- und Militärführung im Zweiten Weltkrieg kritisch beurteilen. (Quelle: Wikipedia)
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