Die deutschstämmigen Jugendlichen in Kasachstan interessieren sich kaum noch für ihre Herkunft. Viktor Ulrich, Vorsitzender der deutschen Organisation „Wiedergeburt“ über die Entwicklung der deutschen Kultur im kasachischen Kostanai:
Frage: Als der Eiserne Vorhang gefallen war, siedelten viele Deutsche aus Kasachstan nach Deutschland aus. Weil es immer dort besser ist, wo man selbst nicht ist?Viktor Ulrich: Keineswegs. Die Menschen sehnen sich in aller Regel nach Gemeinschaft. Als es mit der Wirtschaft bergab ging und die Sowjetunion auseinanderbrach, keimte in unserer Volksgruppe zum letzten Mal die Hoffnung auf die Wiedererrichtung ihrer Autonomie. Um die Sprache und Kultur einer Volksgruppe zu erhalten, bedarf es eben einer gewissen staatlichen Förderung. Als die Leute dann begriffen hatten, dass sie ihre Hoffnung auf Autonomie begraben müssen, setzten sie auf die historische Heimat, auf Deutschland. […]
Die meisten Deutschen, die heute in Kostanai leben, beteiligen sich rege am gesellschaftlichen Leben ihrer Volksgruppe. Wann ist eigentlich die Organisation „Wiedergeburt“ entstanden? Wir im Gebiet Kostanai waren die ersten, die als Gebietsgesellschaft der Deutschen unter dem Namen „Wiedergeburt“ rechtlich registriert wurden. Das war im September 1989. Eine spürbare finanzielle Unterstützung aus Deutschland begann 2001, als die Begegnungszentren gegründet wurden. Damit waren wir auch in der Lage, technische Ausrüstung, Volkstrachten und Musikinstrumente für Auftritte zu erwerben. Die Begegnungszentren haben einen großen Anteil an der Wiederbelebung und Pflege unserer Kultur und unserer Sprache. Jährlich werden hier etwa 70 Sprachkurse in den sechs Regionen unseres Verwaltungsgebiets durchgeführt. […]
Leider wird Deutsch fast nur noch aus persönlichem Interesse gelernt. Das Ansehen der Sprache hat nachgelassen. Früher wurde Deutsch noch an fast allen Universitäten im Verwaltungsgebiet gelehrt, selbst an Schulen und in Kindergärten. Nun gibt es das kaum noch, was mir sehr missfällt. Deutschland ist zum Beispiel der zweitgrößte Investor in Kasachstan. Da muss man doch miteinander reden können! Einmal hat sich ein kasachischer Geschäftsmann, der mit Deutschland Handel treibt, an die „Wiedergeburt“ gewandt und um Vermittlung eines Sprachlehrers gebeten. Er war bereit, den Sprachkurs für eine ganze Gruppe zu finanzieren, nur um selbst Deutsch lernen zu können.
Heute wird die deutsche Volksgruppe auch von der Völkerversammlung Kasachstans unterstützt. Welche Rolle spielt dieses Gremium für die „Wiedergeburt“? Unser Präsident Nursultan Nasarbajew hat einmal gesagt: „Wenn sich Eheleute streiten, zerfällt die Familie, streiten sich Manager, geht die Firma kaputt, streiten sich Volksgruppen, gehen Staaten unter.“ Als die Völkerversammlung ins Leben gerufen wurde, glaubten viele nicht an ihren Erfolg. Heute ist das anders: Im ganzen Land gibt es Häuser der Völkerfreundschaft. […] Seit es diese Völkerversammlung gibt, arbeiten wir eng mit den anderen Volksgruppen zusammen, organisieren gemeinsame Begegnungen, feiern unsere nationalen Feiertage zusammen und nehmen gemeinsam am öffentlichen Leben teil.
Beim Besuch des Deutschen Hauses in Almaty, das in diesem Jahr sein fünfzehnjähriges Bestehen beging, schrieb Präsident Nasarbajew ins Gästebuch: „Viel Erfolg dem Deutschen Haus, das die Interessen der Bürger Kasachstans wahrt und viel zur Festigung der Freundschaft zwischen den Völkern beiträgt.“ Kann man davon sprechen, dass die Deutschen Anteil an der Entwicklung des Landes haben? Ja sicher. Gerade hier in der Region arbeiten viele Deutsche im Staatsapparat. Viktor Meister ist der Erste stellvertretende Bürgermeister von Kostanai, Albert Rau der ehemalige Bürgermeister von Lisakowsk, Heinrich Schek der Direktor der Abteilung für Volksbildung und Olga Kikolenko Abgeordnete des Parlaments. Damit sind nur einige namhafte Deutsche in verantwortungsvollen Positionen genannt. Die Aufzählung ließe sich um weitere Bürgermeister, Chefärzte oder Geschäftsleute ergänzen. Sie tragen alle erheblich dazu bei, dass unsere Region und unser Land vorankommen.
Kasachstan fördert sehr die junge Generation. Gibt es auch in der „Wiedergeburt“ Nachwuchs, der die Traditionen hochhält und vielleicht auch neue Ideen einbringt? Wir haben einen Jugendklub, dessen Mitglieder auf diversen Kulturfestivals schon Preise gewonnen haben. Allerdings mussten wir gerade in jüngster Zeit feststellen, dass das Interesse der jungen Leute an ihrer Herkunft nachlässt. Für uns heißt das, dass wir uns noch mehr um die Jugend bemühen müssen, um sie für unsere Kulturveranstaltungen zu begeistern. Viele Deutsche, die schon ein Leben lang in Kostanai leben, helfen uns dabei. Sie haben viel durchmachen müssen und tun jetzt alles dafür, als Deutsche unter Deutschen leben zu können. Sie möchten der Jugend ein Stück deutscher Identität vermitteln.
Das heißt, derzeit läuft nicht alles rund? Die Sache ist so: Die jungen Leute haben über die Großmutter oder den Urgroßvater deutsche Wurzeln. Manche haben aber Schwierigkeiten, diese Wurzeln überhaupt auszumachen. […] Wenn beide Elternteile Deutsche wären, würde sich die Frage nach der Volkszugehörigkeit gar nicht stellen. Inzwischen gehören aber die meisten Eltern verschiedenen Volksgruppen an, und das bleibt nicht ohne Folgen.
Sollte also Ihrer Meinung nach bei der Eheschließung auf eine gemeinsame Herkunft geachtet werden?Antwort: Ganz und gar nicht. […] Ich selbst habe keine Deutsche geheiratet. Auch die Deutschen, die ausgesiedelt sind, leben hauptsächlich in so genannten gemischten Familien. So gibt es in Deutschland heute 26.000 Kasachen. Das Herz richtet sich nicht nach der Volkszugehörigkeit. […]
Quelle: Денис Сутыка: „Виктор УЛЬРИХ: Престиж немецкого упал. И с этим я не согласен,
Denis Sutyka: „Viktor Ulʼrich: Prestiz nemeckogog upal. …“,
http://www.rusdeutsch.ru vom 16. September 2009;
Übersetzung: Norbert Krallemann