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Odessa, im Mai 2009 - Die Hauptstraße von Petrodolina ist menschenleer, lediglich vier Gänse spazieren durch das Dorf. Gegenüber der Dorfkirche reihen sich flache Häuser aneinander, allesamt jüngeren Datums. Die frisch asphaltierte Straße heißt ‚Niedergasse’ und führt direkt zu der Tischlerei von Iwan Lewin. Es regnet, der Abend dämmert und hüllt das Dorf allmählich in Finsternis, doch Iwan Lewin arbeitet noch. Er ist allein in seiner Werkstatt und bearbeitet einen Holzbalken. Der Mann mit dem Schnurrbart und dem dichten Haar trägt eine braune Lederjacke und darunter einen dicken Wollpullover. Er spricht deutsch, aber lieber spricht er russisch.
Petrodolina hieß früher Peterstal. Der Ort war 1805 von Deutschen gegründet worden und liegt wie die Dörfer Neuburg, Alexanderhilf, Mariental, Groß- und Kleinliebental in der Nähe der ukrainischen Millionenstadt Odessa. Katharina die Große hatte in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts deutsche Siedler ins Russische Reich eingeladen. In den unbesiedelten Gebieten sollten sie sich niederlassen. Sie erhielten Land und wurden vom Militärdienst befreit.
Die ersten 300 Familien kamen 1803 in die Steppe rings um Odessa. Die Hafenstadt war erst neun Jahre zuvor gegründet worden. Die Einwanderer sollten, so wünschte es die Zarin, den Einfluss der Türken am Schwarzen Meer zurückdrängen. Erst einmal aber kämpften sie ums eigene Überleben. In diesem Niemandsland fehlte es an Nahrungsmitteln, Medizin, Baumaterialien und technischen Geräten. „Das erste Jahr war Tod, das zweite Jahr die Not, im dritten Jahr gab’s Brot“ – so beschrieben die ersten Deutschen ihr Leben in Südrussland.
Die Leute in Petrodolina erzählen, Iwan Lewin habe goldene Hände und sei der beste Tischler weit und breit. Lewin winkt ab, als er das hört, er wirkt bescheiden, fast schüchtern. „Ich hatte gute Angebote aus Odessa“, sagt er nach einer Weile. „Aber ich habe meine Arbeit sehr gern. Hier in Petrodolina bin ich mein eigener Chef.“
Lewin versucht, ein wenig deutsch zu sprechen. Es fällt ihm schwer. Er sucht nach Worten. Man begreift, dass er diese Sprache irgendwann unterwegs verloren hat; sie ist ihm fremd geworden, geblieben ist eine Sprache, deren er sich nur noch bedient, wenn Besucher kommen, die nach Spuren der deutschen Minderheit suchen. Lewin nutzt die erste Frage, die ihm auf Russisch gestellt wird, zur Flucht. Fortan redet er nur noch deutsch, wenn es sich nicht vermeiden lässt.
Iwan Lewin in seiner Werkstatt Foto: Swetlana Tarassjuk |
1993 musste Iwan Lewin mit seiner Familie aus Karaganda verlassen. Er wäre gern geblieben, doch im unabhängigen Kasachstan war für ihn kein Platz mehr. Er galt als Fremder. Wie viele andere wurde er von dem aufkommenden kasachischen Nationalismus vertrieben. „Ich hatte dort alles, eine Dreizimmerwohnung, eine Datscha, ein gutes Auto“, erzählt er und vergräbt die Hände in den Seitentaschen seiner Jacke. „Meine Wohnung habe ich für tausend Dollar verkauft, meine Datscha für zweihundert. Und ich hatte noch Glück. Andere haben gar nichts bekommen“, sagt er.
Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es mehr als 300 deutsche Dörfer rund um Odessa. Die Kinder, Enkel und Urenkel der einstigen deutschen Auswanderer fühlten sich längst wohl. Was sie besaßen, hatten sie und ihre Vorfahren mit eigener Kraft aufgebaut. Der fruchtbare Boden ließ die Landwirtschaft gedeihen. Doch dann kam der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Nach 1941 lebten kaum noch Deutsche in der Sowjetukraine. Entweder waren sie nach Osten deportiert worden, oder sie mussten ihre Identität geheim halten.
Auch Iwans Großvater wurde vertrieben. Er zog mit seiner Familie nach Kasachstan und fing ein neues Leben an. In Karaganda, der viertgrößten Stadt Kasachstans, wurde Iwan geboren. Er wuchs dort auf und heiratete die Russin Nina. Das Paar bekam zwei Söhne. Gemeinsam zog man 1993 nach Petrodolina. Zunächst wohnten die Lewins ein paar Jahre in einem Wohncontainer. Häuser gab es noch nicht. Und auch sonst war vieles anders als in Kasachstan. Anstelle einer Stadt mit 400.000 Einwohnern war die neue Heimat ein Dorf in einer kaum besiedelten Gegend.
Die deutsche Regierung gab Geld für neue Siedlungen, damit die Nachfahren der deutschen Auswanderer sich in der alten Heimat niederlassen konnten. Viele Familien, die aus Usbekistan oder Kasachstan ans Schwarze Meer gekommen waren, zog es bald weiter nach Deutschland. „In Deutschland ist es gut für die Deutschen“, sagt Iwan Lewin und rückt seine eckige Brille zurecht. Er hatte nie Ausreisepläne. Er wollte nie weg aus Karaganda. Und er will jetzt nicht weg aus Petrodolina. (Christine Karmann, Svetlana Tarassjuk)
Ihre Meinung |
Bröckel, 04.02.2012 00:44:24:
Meine kanze verwandschaft stamen aus (Peterstal)-Petrodolinskoe. Dises jhar werde ich meine heimat besuhen. unt wen es klapt mit Iwan Lewin sich trefen
Kateryna, 28.08.2011 22:16:00:
...und es war interessant die Geschichte seiner Familie zu hören, neugirig war eben ein Rezept von Strudel zu bekommen, was sein Liblingsgericht ist. Ich kann sicher sagen, das er Deutsch sehr gut spricht, mehr dazu Dialektisch!!! Hat er Deutsche Schule besucht? ja, er spricht ja gut Russisch. Warum nicht? Russisch ist ja die Sprache des Landes, er wohnt.
Kateryna, 28.08.2011 22:07:04:
ich heisse Kateryna Mayer, komme aus Mikolajiw. Ich kenne Iwan Lewin dankbar eines Projekts - November 2008. Wir haben damals Bayerisches Haus in Odessa und Goethe Bibliothek besucht. Wir hatten auch einen Ausflug nach Peterstal (Petrodolina, ja haben das Dorf, die Kirche und die Werkstatt von Iwan Lewin gesehen. Unsere Leiterin hat Iwan Lewin interviert.
Bodo, 19.05.2009 23:32:15:
Ich war 1992/93 vermittelt durch den VDA 6 Monate Deutschlehrer in Peterstal, als die Containerdeutschen aus Kasachstan angekommen sind. Man hat diese Leute von beiden Seiten ziemlich im Dreck sitzen lassen. Von der dt. Botschaft in Kiew hat sich kaum jemand dorthin verirrt, die Leute hatten ja keine dt. Pässe und die Ukrainer wollten nur an ihnen verdienen.
Madeleine, 07.05.2009 01:26:10:
"der Deutsche, der lieber russisch spricht...", wie bekannt die Tonalität des Satzes bei deratigen Artikeln klingt. Wann werden Journalisten, die über Minderheiten in der ehemaligen Sowjetunion schreiben, ihr demonstratives Unterstreichen des "Erfolges" der staatlichen "Homogenisierung" der Gesellschaft (natürlich ohne dies offen auszudrücken) einstellen? Erst dann wenn es keine Vielfalt mehr gibt?