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Generation Glasnost

Ein Klassenfoto von 1990 und die Wirklichkeit von heute
Generation Glasnost Foto: privat

Junge Leute einer Abschlussklasse in Barnaul schauen – teils lachend, teils mit ernster Miene – in die Kamera. 20 Jahre später: Die Geschichte eines Klassenfotos enthüllt zwei Jahrzehnte russischen Alltag. Ausbildung und Beruf, Familie und Partnerschaft – Glück und Unglück, Erfolg und Niederlage messen sich stets an dem, was besonders schwer zu erlangen ist: eine Wohnung, groß genug für die eigene Familie und Beweis für Erreichtes.

Von Alexander Trippel

Ich kam 1974 in Westsibirien zur Welt und ging in einer mittelgroßen Stadt  zur Schule. Die Hälfte der russischen Bevölkerung lebt in Städten dieser Art. Umgeben von grauen Plattenbauten – hier wohnten wir und die Familien meiner Klassenkameraden - stand unser fast neues Schulgebäude. Unser Schulabschluss fiel in die Zeit tiefgreifender politischer Veränderungen. Perestrojka, Mauerfall: Wir waren voller Hoffnung und Zuversicht, das Erbe des Sozialismus schnell zu überwinden und in unserem Alltag an den lange vermissten Lebensstandard des Westens aufzuschließen.

Heute - meine früheren Klassenkameraden und ich sind nunmehr um Mitte dreißig – schaue ich zurück und frage, was die vergangenen zwei Jahrzehnte für jeden von uns gebracht haben.

Im Westen gilt man mit 35 Jahren noch als junger Mensch; in Russland, wo man mit 22 Jahren schon einen Studienabschluss hat und die Lebenserwartung viel geringer ist, steht man bereits in der Mitte des Lebens.

Das Foto wurde in der 11. Klasse aufgenommen, unser Abiturjahrgang. Ich beginne mit der oberen Reihe, von links nach rechts.

Da lächelt ganz brav Alexej S., ein schüchterner Junge, heute Physik-Dozent an einer Universität. Er ist seit einigen Jahren verheiratet, kinderlos. Die Gehälter von Dozenten und Professoren sind eher bescheiden, aber ich freue mich, dass er etwas erreicht hat.

Neben ihm eine weiterer Alexej. Alexej D. hat auch studiert. Anfang der neunziger Jahre begann er dann mit dem Verkauf von Textilien auf Märkten. Weit hat er es damit nicht gebracht, und er lebt mit Frau und Tochter in der 50-Quadratmeter-Wohnung seiner Schwiegermutter. Für eine eigene Wohnung fehlt das Geld, gerade für Essen und Kleidung reicht sein Einkommen. Als ich ihn vor einem Jahr besuchte, wollte er die Wohnung renovieren und hatte bereits im Schlafzimmer - kaum sechs Quadratmete groß - Laminatboden verlegt. Ich sah ihm an, dass er die Hoffnung auf eine bessere Wohnung aufgegeben hatte. Dieser halb zerfallene Plattenbau wird wohl auch künftig sein Zuhause bleiben.

Foto: Freundeskreis Witten-Kursk
Der Wohnungsmangel war immer schon ein Elend der sowjetischen und heute russischen Bürger. Häufig leben in einer Zwei- oder Dreizimmerwohnung drei Generationen mit weiteren Angehörigen. Die Miete übersteigt oft das durchschnittliche Monatsgehalt, nur wenige können sich das leisten. Kredite sind ebenfalls unerschwinglich, für einen Wohnungskauf muss man Bargeld haben – und das gilt vielleicht für ein Zehntel der Bevölkerung.

So wie für Valerij G. In der Schule hat er nicht geglänzt und in den wilden neunziger Jahren mit Altmetall gehandelt, ein Schrotthandel der gehobenen Art. Das hatte damals Hochkonjunktur, da viele Alkoholiker und Drogenabhängige aus allen möglichen Quellen Metall klauten und versilberten. In jüngster Zeit ist das Geschäft ruhiger geworden. Immerhin hat Valerij es geschafft, eine Zweizimmerwohnung in einem neuem Sechs-Etagenhaus für sich, Frau und Tochter zu kaufen. Ein eher seltener Fall.

Die meisten Klassenkameraden müssen oder mussten lange bei ihren Eltern wohnen, manchen hat der Tod etwa der Großeltern zu einer eigenen Plattenbauwohnung verholfen. Für Viele ist das die einzige Möglichkeit, ihre Wohnverhältnisse zu verbessern. Einige meiner Schulfreunde mussten in den vergangenen Jahren gar wieder zurück zu ihren Eltern ziehen, weil etwa die Ehe in die Brüche gegangen war.

So erging es Tanja K. Ihre einzige Tochter ist 15 Jahre alt. Tanja arbeitet als Bürokauffrau für etwa 300 Euro im Monat. Das Geld reicht gerade für Essen und Kleidung, mehr ist nicht drin. Eine ähnliche Beschreibung würde auf jede dritte Frau meiner Klasse zutreffen – geschieden, ein oder zwei Kinder. Einen Mann zu finden und ein neues Zusammenleben zu planen, ist ihnen kaum noch möglich. Ungebundene Männer gibt es fast nicht. Jeder dritte Mann im Alter um 40 Jahre ist dem Alkohol oder Drogenkonsum verfallen, sitzt im Gefängnis oder hat dieses Alter gar nicht erst erreicht.

So wie mein Schulfreund Oleg P. Mit 30 ist er gestorben, Leberzerfall nach langjährigem Alkoholkonsum. Oder Dima S., der mehrmals im Gefängnis saß und kaum länger als sechs Monate in Freiheit bleibt. Oder etwa Slava  G., der wegen Mordes im Alkoholrausch 15 Jahre absitzen soll. Zum Glück ist aus unserer Klasse keiner an Drogen gestorben, aus der Parallelklasse sind es sogar zwei. Mäßiger Alkoholkonsum bei Männern wird von den Ehefrauen als normal betrachtet. Wer allerdings täglich einen halben Liter Wodka trinkt, der gilt als Alkoholiker.

Foto: Josy Sputnik

So wie mein Schulfreund Sergej V., ein brillanter Kopf, der aus seinem Talent nichts machte. Beste Noten all die Schuljahre, Hobbyelektroniker. Sein Studium hat er abgebrochen, seit Jahren trinkt er fast jeden Tag, hat gelegentlich Jobs, sieht zehn Jahre älter aus als seine Altersgenossen, ist geschieden und hat drei Kinder von zwei Frauen. Immerhin, die meisten meiner Klassenkameraden haben ein Kind.

Alex K. schaut cool von der oberen Reihe des Fotos. Nach der Schule hat er zwei Jahre im Knast verbracht. Dann hat er sein Leben geändert, ein Studium abgeschlossen und mehrere Firmen aufgebaut. Vor drei Jahren hat er sich und seiner vierköpfigen Familie eine Dreizimmerwohnung in einem Neubau am Stadtrand zugelegt. In einem der vielen Gebäude, die vor wenigen Jahren gebaut wurden und kaum zur Hälfte bewohnt sind.

Einige Wohlhabende investierten vor Jahren in Wohnungen, um ihr Kapital vor der Inflation zu retten. Auch Banken und Baugesellschaften wurden zu Bauherren und erwarteten vom Verkauf der Wohnungen gute Erlöse. Die Preise für einen Quadratmeter Wohnfläche in meiner Heimatstadt näherten sich vor der Krise denjenigen von Köln oder Hamburg, nur Löhne und Gehälter eher denjenigen von Bulgarien oder Mazedonien.

Und so fanden diese Wohnungen kaum Abnehmer. Zudem war allen klar, dass im Kaufpreis  einer Wohnung auch eine gehörige Bestechungssumme enthalten ist, die zuvor von der Baugesellschaft an Behördenmitarbeiter gezahlt wurde. Der Bausektor galt und gilt als Dorado der Korruption.

Zwei Frauen aus meiner Klasse, Larissa K. und Sveta B., arbeiteten als Buchhalterinnen bei solchen Baufirmen und mussten sich kürzlich erst neue Jobs suchen. Ein Großteil der Unternehmen ist pleite oder steht kurz davor.

Wenn ich das Klassenfoto anschaue, sehe ich keinen, der einen Job in einem  produzierenden Gewerbe hat. Kein Schlosser, kein Dreher, kein Elektriker, weder Schweißer noch Elektroniker. Dafür einige, die bei der Miliz, bei  Feuerwehr, Sicherheitsfirmen oder als Verkäufer arbeiten.

Wlad W. hat es sogar geschafft, von der Feuerwehr in den Katastrophenschutz aufzusteigen. Er hat bei der Arbeit nicht viel zu tun, bekommt etwa 400 Euro im Monat. Die beiden Einraumwohnungen, die die verstorbenen Großmütter ihm und seiner Frau hinterließen, haben sie gegen eine Dreizimmerwohnung im gleichen Plattenbau eingetauscht. Jeden Abend kauft sich Wlad zwei Flaschen Bier und liegt auf dem Sofa vor dem Fernseher. Er sieht nicht ein, dass er eine neue Wohnung oder gar ein Haus bauen sollte, um die Bauindustrie anzukurbeln, oder auf Kredit ein neues Auto kaufen, um die schlechten Absatzzahlen der Automobilindustrie zu lindern.

Doch halt! Da sehe ich Alex B. der seit drei Jahren als Schlosser arbeitet. Allerdings nicht in Russland, sondern in Deutschland, wo er mit seiner Frau Lena S. - ebenfalls aus unserer Klasse - seit sieben Jahren wohnt. In Russland war er bei der städtischen Feuerwehr, jetzt macht er täglich Überstunden, um die vor kurzem gekaufte 120-Quadratmeter-Wohnung bei Dortmund abzubezahlen.

Auch andere haben Russland verlassen. Olja B. wohnt im Ruhrgebiet, Natalia K. in Bayern. Von 30 leben fünf in Deutschland, ich bin einer von ihnen. Bei uns in Sibirien lebten überdurchschnittlich viele Russlanddeutsche. Einige sind geblieben, wie Sergej K., der seit Anfang der neunziger Jahre verschiedene Geschäfte aufzubauen versuchte, bis er vor wenigen Jahren tief in Schulden versank.

Max B. hat ein Elektronik-Studium abgeschlossen und eröffnete Ende der neunziger Jahre einen Handel mit Elektrogeräten. Drei kleine Läden hatte er vor der Krise und verkaufte erfolgreich Fernsehgeräte und Waschmaschinen. Auslandskredite der Banken, die zu einem Vielfachen des eigenen Zinssatzes an die Bevölkerung weitergegeben wurden, machten das möglich. Heute hat er noch einen Laden, der zur Hälfte leer steht. Das Geschäft mit westlichen Krediten ist für die heimischen Banken schwieriger geworden.

Kolja D. hat Wirtschaft studiert, arbeitet als Geschäftsführer bei einem Lebensmittelgroßhandel und plante, 2008 einen ersten Betrag an die Wohnungsbaugesellschaft zu überweisen, da er mit seiner Familie immer noch  keine eigene Wohnung hatte. Der Bauträger ist inzwischen bankrott und der Traum von einer eigenen Wohnung ist ungewiss.

Ira P. hat ebenfalls Wirtschaft studiert, arbeitet bei einer Bank und hat vor kurzem ihr erstes Kind bekommen. Ihr acht Jahre ältere Mann verdient offensichtlich so gut, dass es für eine eigene Wohnung reichte.

Wir haben zwei Ärzte unter den früheren Mitschülern. Andrej R. wohnt jetzt in einem abgelegenen Dorf an der mongolischen Grenze und hat sich sogar ein kleines Haus gebaut. Der einzige aus meiner Klasse, der ein Haus gebaut hat, wo er mit Frau und zwei Kindern lebt. Ein Eigenheim in Russland ist gewöhnlich ein Privileg reicher Geschäftsleute oder von Beamten, die Bestechungsgelder einstreichen können. Doch zum Glück baute Andrej sein Haus in einem Dorf, wo die Beamten nicht so gierig sind. Im vergangenen Jahr kam er mit seinem neuen Auto zum Klassentreffen, einem acht Jahre alten Toyota mit Rechtslenkung. Diese Autos, die aus Japan über Wladiwostok eingeführt werden, sind gut und billig.

Sascha M. ist ebenfalls Arzt und arbeitet in einer städtischen Klinik. Er hat promoviert und ich denke, es geht ihm materiell gut. Gute Ärzte haben gute Einkünfte, die eher aus Zahlungen dankbarer Patienten bestehen. Die mageren Gehälter werden aus der Staatskasse bezahlt, so hängen die Ärzte indirekt ebenfalls an der Öl- und Gaspipeline.

Slava C. und  Olja P. sitzen in der unteren Reihe nebeneinander, haben zwei Jahre nach dem Schulabschluss geheiratet und leben immer noch zusammen. Zum Glück, denn die meisten meiner verheirateten Klassenkameraden führen bereits die zweite oder dritte Ehe. Die beiden haben einen Sohn und arbeiten in einem Geschäft für Auto-Ersatzteile. Sie leben immer noch in der Wohnung, in der Slava zur Schulzeit mit den Eltern gelebt hat. Viel mehr weiß ich nicht über die beiden.

Tanja S. hat immer noch das gleiche schüchterne Lächeln wie auf dem Foto von damals. Sie ist verheiratet, hat drei Kinder und arbeitet als Grundschullehrerin. Eher ein schlecht bezahlter Job, unter 300 Euro im Monat. Sie wohnt mit Mutter und Familie in jener Dreizimmerwohnung, in dem sie noch als Schulkind gelebt hat.

Bei unserem jüngsten Treffen vor einem Jahr waren etwa 20 von 30 Mitschülern zusammengekommen. Wir haben bis spät in die Nacht in einem Café zusammengesessen. Meine Klassenkameraden sind gewiss weder zufriedener noch unzufriedener als unsere Altersgenossen in Deutschland. Keiner hungert, keiner ist obdachlos, alle arbeiten, die meisten sind einverstanden mit dem, was sie haben, vielleicht mit Ausnahme der alleinerziehenden Mütter. Fast alle wohnen in Plattenbauten der siebziger und achtziger Jahre, ein Großteil des Einkommens wird für Lebensmittel ausgegeben.

Wenn ich die Wirtschaftsnachrichten lese, wie westliche Investoren mit russischen Industriellen in Moskau zusammenkommen, um Verträge über eine neue Autofabrik, ein Zementwerk oder ähnliches zu unterzeichnen, dann habe ich manchmal meine Klassenkameraden vor Augen. Ich sehe, wie zwar gleichzeitig, aber unabhängig voneinander sich diese Welten entwickeln.

Die einen investieren Milliarden in der Erwartung, dass die Mehrheit der anderen ihre Produkte kauft. Banken erwarten hohe Renditen, Oligarchen hohe Gewinne, Politiker schnelles Wachstum. Doch die meisten Einwohner Russlands haben andere Sorgen. Und so wie es aussieht, wird sich das in den nächsten zehn Jahren auch nicht ändern.

Schenkt man den Nachrichten und Prognosen allerdings Glauben, wird sich die russische Wirtschaft bis 2020 deutlich steigern und westliches Niveau erreicht haben. Ich frage mich, wer dieses rasante Wachstum in Russland mitmachen wird. Meine Klassenkammeraden, das dürfte sicher sein, werden wohl kaum dabei sein.

 
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Alexander Trippel stammt aus Barnaul und lebt seit 17 Jahren in Deutschland. Der Diplom-Kaufmann hat in Tomsk und Bielefeld studiert und ist Mitarbeiter einer Firma in Nordrhein-Westfalen, die sich auf den Handel mit gebrauchten Maschinen spezialisiert hat.