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„Es geht nicht mit rechten Dingen zu“

Nikita Sokolow zum Fall des Historikers Michail Suprun

Was bezwecken die Behörden in Archangelsk mit ihrer Attacke auf Michail Suprun? Der Historiker erforscht das Schicksal von Russlanddeutschen in Zeiten des Terrors. Die Zukunft seiner Arbeit ist jetzt in Frage gestellt, weil die Behörden nahezu alle Forschungsunterlagen konfisziert haben. Suprun arbeitet in dem Projekt mit dem Deutschen Roten Kreuz zusammen. Über den Fall Suprun sprach ORNIS mit dem Moskauer Journalisten Nikita Sokolow.

Moskau, im Oktober 2009 – Der Fall des Historikers Michail Suprun aus Archangelsk zieht immer weitere Kreise. Dem Wissenschaftler wird vorgeworfen, Personendaten weitergegeben und einen Amtsträger zu einer Straftat angestiftet zu haben. Mit Unterstützung aus Deutschland erforscht er das Schicksal deutscher Kriegsgefangener und verfolgter Russlanddeutscher im Zweiten Weltkrieg.

Gegen Suprun, Professor der Pomorischen Staatsuniversität, und gegen den Leiter des Informationszentrums der Innenbehörde von Archangelsk ist noch keine offizielle Anklage erhoben worden. Suprun hält sich derzeit zu Forschungen in Polen auf.

Die Geschichtsfakultät der Universität Archangelsk unterstützt den renommierten Forscher. Dekan Alexei Feldt meinte gegenüber der Presse: „Wir kennen ihn als guten Wissenschaftler … und hoffen, dass der Fall ohne Eklat und erfolgreich abgeschlossen wird.“

Die tatsächlichen Beweggründe für das Vorgehen der Behörde liegen weiterhin im Dunkeln, meint der Moskauer Historiker Nikita Sokolow*. Der Redakteur der Moskauer Zeitschrift „The New Times“ beobachtet die Vorgänge in Archangelsk aufmerksam. Im ORNIS-Gespräch erläutert er seine Sichte des Falles.

Nikita Sokolow
Foto: Andreij Kachaljan

ORNIS: Was war der Anlass für die Justiz-Aktion gegen Michail Suprun?
 
Sokolow: Formal kam die Sache ins Rollen, weil Nachkommen von damaligen Opfern, deren Namen auf Listen standen, angeblich Anzeige erstattet hatten. Professor Suprun wird nun vorgeworfen, personenbezogene Daten gesammelt zu haben, um daraus ein so genanntes Trauerbuch zu erstellen. Die Angehörigen der Opfer hätten die Veröffentlichung allerdings nicht eigens autorisiert.

Es gibt in Russland bereits rund 300 solcher Bücher. Diese wurden teils von der Gesellschaft Memorial, teils von regionalen Kommissionen im Gedenken an die Opfer politischer Verfolgung publiziert. An diesen Büchern haben auch staatliche Stellen, darunter Staatsanwaltschaften und das Innenministerium mitgearbeitet. Dabei hat es nie Probleme mit der Verwertung persönlicher Daten gegeben. Dies ist der erste Fall.

Der Wink der Macht


Ist was dran an dem Vorwurf, gegen den Datenschutz verstoßen zu haben?
 
Formal gesehen gibt es hier tatsächlich ein Problem. Unsere Dienste sollen ja die Persönlichkeitsrechte schützen. Warum sie sich aber nicht um die Übergriffe kümmern, die sich fast täglich vor unseren Augen abspielen, sondern jetzt aktiv werden, wo es darum geht, das Andenken an die Opfer von Verfolgungen zu bewahren, ist völlig unbegreiflich. Daraus entsteht ja auch der Verdacht, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht.

Auf diese drastische Art will man wohl eher Historikern und Archivmitarbeitern ein Signal geben: Hört auf, immer nur an die dunklen Seiten unserer Geschichte zu erinnern - es ist genug, unser Land hat Größe, es ist aus eigener Kraft wieder hoch gekommen, und man muss nicht alles schlecht machen.

Es gibt in Russland zwei Arten von Archiven: staatliche und behördliche. Die Leute in den staatlichen Archiven sind insgesamt recht ängstlich. Sie haben schon oft Prügel einstecken müssen, sie verrichten Sklavenarbeit, werden schlecht bezahlt und haben keine Lobby in der Gesellschaft. Es gehört nicht viel dazu, ihnen Angst einzujagen.

Den Mitarbeitern in behördlichen Archiven gibt man einfach den Befehl: Stopp! Daher ist das, was derzeit in Archangelsk geschieht, sehr gefährlich. Sämtliche Arbeiten zur Wahrung des Gedenkens an die Opfer von Verfolgung und zur Untersuchung der dunklen Seiten der russischen Geschichte werden vielleicht nicht eingestellt, aber doch sehr eingeschränkt. Die Archivare werden von sich aus den Wissenschaftlern Knüppel zwischen die Beine werfen.

Archive bleiben geschlossen

Wird in Russland der Zugang zu den Archiven schwieriger?

Ja, seit etwa zehn Jahren wird es immer schwieriger, in Archiven zu arbeiten. Ein Archivar kann jederzeit behaupten, die Dokumente seien bereits zu stark beschädigt oder würden gerade restauriert. Sie werden das nicht überprüfen können. In meinen Augen sind das alles verschiedene Seiten ein und desselben Prozesses. Die Erforschung der dunklen Seite der sowjetischen Geschichte wird erschwert, die Stalin-Ära dagegen soll aufgewertet werden.

Wie werden die Historiker in Russland auf den Fall Suprun reagieren?

Das wissenschaftliche Umfeld ist isoliert. Es gibt in Russland keinen Berufsverband der Historiker, der sich um die Einhaltung von Regeln kümmern und darauf achten könnte, dass keine Fakten unterschlagen werden. Es gibt niemanden, der darauf achtet, dass die Geschichte ehrlich niedergeschrieben wird, wie das im vorrevolutionären Russland war oder wie das in anderen europäischen Ländern üblich ist.

Allerdings gibt es erste Anzeichen für eine Kooperation. Gerade in diesem Jahr, in dem es eine Reihe von Jubiläen im Zusammenhang mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gab und sich ein kaum mehr zu ertragender Strom von Lügen aus offiziellen Presse- und Propagandaorganen ergoss, hat es vielen Historiker einfach gereicht. Ihnen ist klar, dass etwas gegen diese totale Fälschung von Tatsachen getan werden muss. Ich habe beispielsweise gehört, dass eine Gruppe Petersburger Historiker eine Art Kooperationsorgan gründen will. Das soll eine gesellschaftliche Organisation sein, die auf die Ethik der Geschichtsschreibung achten will.

Den Machthabern ein Dorn im Auge


Wird die Organisation Memorial Suprun helfen können?

Memorial braucht selbst Hilfe. Seit zwei Jahren schon steht die Organisation massiv unter Beschuss. Im Dezember vergangenen Jahres hat es in der Petersburger Filiale eine skandalöse Durchsuchung gegeben. Bei den Vorwürfen ging es um angeblich finanzielle Unregelmäßigkeiten und sanitäre Mängel. Tatsächlich aber ist die Gesellschaft den heutigen Machthabern ganz einfach ein Dorn im Auge. Sie versuchen, die Arbeit auf jede erdenkliche Weise zu behindern. In Russland hat eine Vergötterung der Sowjetzeit begonnen, und Memorial passt nicht in diesen Rahmen. Darum will man diese Gesellschaft zerstören. (Interview: Irina Kornewa; Übersetzung: Norbert Krallemann)

 

* Nikita Sokolow leitet das gesellschaftspolitische Ressort der Zeitschrift „The New Times“. Der promovierte Historiker – Schwerpunkt: russische Geschichte des 19. Jahrhunderts und russischer Liberalismus - veröffentlichte in Fach- und sozialpolitischen Zeitschriften. In den neunziger Jahren wechselte er von der Wissenschaft zum Journalismus. Er schrieb für die Zeitschriften „Itogi“ und „Jeschednewni Schurnal“ und leitete bis 2009 die geschichtswissenschaftliche Zeitschrift „Otetschestwennyje Sapiski“. Er ist regelmäßig in dem unabhängigen Radiosender „Echo Moskwy“ zu hören und schreibt für grani.ru, ej.ru und weitere      Web-Seiten.


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"The New Times" vom 19. Oktober 2009

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