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Die Entscheidung zur Ausreise war schon vor langem gefallen, und heute war der Tag, dem alle besorgt und entschlossen, beängstigt und hoffnungsvoll zugleich entgegen gefiebert hatten. Der kleine Ort in Kasachstan lag bereits weit hinter ihnen, und doch war an den Gesichtern der Reisenden abzulesen, dass ihre Gedanken immer wieder zurückkehrten, so als weigerten sie sich anzukommen.
Alexander S., seine Frau Erna und die drei Kinder Xenia, Sascha und Wanja waren ein paar Tage zuvor von Freunden und einer Handvoll Verwandter verabschiedet worden. Zum ersten Mal reisten sie außer Landes, eigentlich waren sie aus ihrem Dorf im Norden Kasachstans nur selten herausgekommen, Alexander mal nach Karaganda und Semipalatinsk, Erna vor vielen Jahren zur Ausbildung in die Hauptstadt, als sie noch Alma-Ata hieß. Nun waren sie auf dem Weg nach Berlin.
Sie hatten schon gehört, dass Berlin die größte Stadt Deutschlands ist, die Hauptstadt gar – und es war wirklich beruhigend zu erfahren, dass in Berlin schon viele tausend Menschen leben, die aus Russland und Kasachstan stammen. Jetzt war es ein Glück, dass Alexanders Schwester Olga mit Mann und Kind schon vor zwei Jahren nach Deutschland ausgesiedelt war. Sie leben nicht weit von Berlin entfernt, und natürlich hatten sie versprochen, die Neuankömmlinge am Bahnhof in Empfang zu nehmen. Vorsorglich hatten sie noch ein zweites Auto ausgeliehen - für das Gepäck.
Als der Zug etwas verspätet Berlin erreichte, war es bereits dunkel. Olga wartete am Bahnsteig und half beim Entladen der vielen Gepäckstücke. Ihr Mann meinte, es sei ein Glück, dass man die Koffer, Taschen und Tüten durch das Abteilfenster heben könne. Es gebe in Deutschland schon viele Züge, deren Fenster überhaupt nicht zu öffnen seien. Wegen der Klimaanlage. Kaum war alles draußen, da drängte er zur Eile, weil die Parkuhr vor dem Bahnhof bestimmt schon abgelaufen sei, und das könne teuer werden. Alexander war von der langen Reise zu müde, um über Klimaanlage und Parkuhr nachzudenken, aber eigenartig war es schon, was sein Schwager so erzählte.
Als sie schließlich im Auto saßen auf dem Weg ins Aufnahmelager, waren sie froh, dass Olga und ihr Mann alles in die Hand genommen hatten. Man stelle sich vor, ohne Hilfe und mit ein paar Brocken Deutsch in Berlin oder anderswo anzukommen. Sobald man das Lager erreichen würde, habe man wieder Boden unter den Füßen – Behörden, Staat und Verwaltung würden schon alles gerichtet haben und genau wissen, wie es mit ihnen weitergehe. So glaubten sie.
Drei Tage dauerte der Aufenthalt im zentralen Aufnahmelager - Olga und ihr Mann waren längst wieder zu Hause -, bis sie in ein Übergangslager in einem südlichen Stadtteil von Berlin geschickt wurden. Man hatte ihnen allerlei Papiere gegeben, darunter ein Blatt, das die freundliche Mitarbeiterin im Lager „Laufzettel“ nannte. Dieses Wort stand noch nicht einmal im Wörterbuch, aber es war klar, dass der Laufzettel so ziemlich das wichtigste Papier war. Darauf stand, was alles in den folgenden Tagen zu erledigen sei.
Von den anderen Bewohnern des Lagers war nicht viel Hilfe zu erwarten, einige waren ebenfalls erst gerade aus Russland oder Kasachstan gekommen und genau so unerfahren wie Alexander und seine Familie, manche waren Flüchtlinge aus allerlei Ländern, und die einheimischen Deutschen im Lager hatten selbst genug Probleme, alle Neuankommende an die Hand zu nehmen. Komisch, sagte Alexander eines Morgens zu seiner Frau, in Deutschland ist alles bis ins Letzte organisiert, aber man muss erst selber dahinter kommen.
Also machten sie sich in den folgenden Tagen auf den Weg, immer zu fünft, denn bei vielen Stellen müssen alle aus der Familie persönlich erscheinen. In den ersten Tagen gaben sie eine Unmenge Geld für öffentliche Verkehrsmittel aus, erst U-Bahn, dann S-Bahn, dann Bus – jedes Mal mehr als zwei Euro pro Person beim Umsteigen. 30 Euro hin und 30 Euro zurück. Viele Leute in Deutschland haben wohl deshalb ein eigenes Auto, dachte Alexander, weil sie sich öffentliche Verkehrsmittel nicht leisten können. Dann klärte ihn ein anderer Aussiedler auf, dass man bei Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur einmal bezahlen muss, selbst beim Umsteigen – und dass es auch für Einheimische nicht immer leicht sei, den genauen Fahrpreis zu ermitteln. An den meisten Bahnsteigen stehen nämlich Automaten, die häufig nicht einmal Wechselgeld zurückgeben. Tagelang hatte die Familie viel zuviel bezahlt, aber woher hätte man es denn wissen können?
Auf dem Sozialamt erfuhr Alexander, wie hoch die monatliche Unterstützung für die fünfköpfige Familie sein würde. Erst glaubte er, nicht recht verstanden zu haben. Erna war genau so überrascht: tausend Euro. In Tenge oder Rubel umgerechnet - kaum vorstellbar. Die Freude über den Reichtum hielt nicht lange an. Ein paar Tage später hatten sie gelernt, wie schnell in Deutschland ein solcher Betrag ausgegeben ist. Nicht etwa für Luxusdinge, weil das Angebot so reichhaltig ist und alles so nützlich scheint. Nein, wenn man alle nötigen Ausgaben bedenkt und dann auch noch Lebensmittel kaufen muss, sind tausend Euro schnell aufgebraucht.
Als Alexander und Olga das Wort ´Arbeitsamt` gelernt hatten, glaubten sie noch, dort könne man eine Arbeitsstelle erhalten. Eigentlich ist das auch so. Doch wenn es nicht genug freie Arbeitsplätze gibt, und wenn ein Bewerber kaum Deutsch spricht, wenn darüber hinaus Landwirte, Fahrer und Traktoristen in Deutschland nicht gesucht werden, dann sieht es zunächst schlecht aus. In anderen Fällen werden Berufsausbildungen nicht anerkannt, und man muss sich damit abfinden, vielleicht eine ganz andere Tätigkeit zu bekommen – wenn überhaupt. Alexander jedenfalls, der in Kasachstan einen Krankenwagen gefahren hatte, wird es nicht leicht haben, eine Arbeit zu bekommen. Und das kann lange Zeit so bleiben.
Doch alle in der Familie sind zuversichtlich. Ihr Integrationskurs hat schon begonnen, und bald werden alle so gut Deutsch sprechen wie Olga und ihr Mann, die ja auch noch nicht so lange in Deutschland leben. Die Kinder gehen zur Schule, und für Wanja haben sie einen Kindergartenplatz gefunden. Glück gehabt, denn in Deutschland ist es nicht selbstverständlich, dass alle Kleinkinder einen Platz im Hort bekommen.
Den Schritt in eine Krankenversicherung haben sie auch geschafft, dabei haben andere Aussiedler Ratschläge gegeben. Denn manche Versicherungen weigerten sich lange Zeit, Aussiedler aufzunehmen, die Sozialhilfe beziehen. Und die Versicherung, die Bewerber nicht abweisen kann, weil sie mit staatlichen Mitteln betrieben wird, hat Alexander und seine Familie mit allerlei Empfehlungen und Ausflüchten tagelang herumgeschickt. Alexander wollte schon aufgeben, als er einen hilfreichen Bekannten aus früheren Zeiten traf, der schon lange in Deutschland lebt. Die Sache mit der Krankenversicherung war schnell erledigt.
Von zwei Dingen hatte die Familie schon in Kasachstan geträumt: ein eigenes Auto zu fahren und eine eigene Wohnung zu haben. Alexander hatte gehofft, bald mit der Familie Verwandte in anderen Städten zu besuchen und dazu vielleicht ein etwas älteres Fahrzeug zu finden. Ein Liter Benzin kostet weit mehr als ein Euro, Versicherung und Steuer müssen für ein Auto bezahlt werden, bevor man auch nur einen Kilometer gefahren ist. Und dann zeigt sich, dass die staatliche Sozialhilfe für eine fünfköpfige Familie einfach nicht reicht.
Und die Wohnung: In den Zeitungen werden an jedem Wochenende Hunderte von freien Wohnungen angeboten, kleine und große, teure und preiswerte, Luxusappartements und bescheidene Räume. Ein Freund aus dem Wohnheim, der schon recht gut deutsch spricht, hat für Alexander Besitzer oder Verwalter angerufen und gefragt, ob die Wohnung noch frei sei. Bei einigen Wohnungen sollte zusätzlich noch eine Gebühr an einen Vermittler bezahlt werden.
Aber jedes Mal, wenn nach Beruf und Einkommen gefragt wurde und das Wort ´Sozialhilfe` fiel, war die Wohnung schon an andere Interessenten vergeben. Einige Vermieter sagten offen, dass sie nur an Personen mit einem festen Einkommen vermieteten und baten um Verständnis. Es kam auch vor, dass Alexanders Freund gerade das Telefonat begann - mit seinem russischen Akzent, da wurde am anderen Ende aufgelegt. Es wird wohl noch eine Zeitlang dauern, bis die Familie in der neuen Heimat heimisch wird. (Ulrich Stewen, Berlin)
Dem Gebäude mit der halbrunden Fassade, den hohen Fenstern, zwei seitlichen Eingängen und dem großen Vorplatz ist anzusehen, dass der Stadtteil einmal bessere Zeiten erlebt hat. Als Jugendstätte der evangelischen Dreifaltigkeits-Gemeinde lag das Haus vor dem Krieg inmitten des Berliner Diplomatenviertels. Nach Krieg und Mauerbau verlor die Gemeinde den größten Teil ihrer Mitglieder an den Osten, Kreuzberg verlor seinen guten Ruf und verfiel zu einem sozialen Brennpunkt. Heute leistet hier die Organisation "Wille" Beratungs- und Sozialarbeit, das gleichnamige Jugendcafé bietet Raum für Freizeittreff und Kennenlernen.
Eine Zeitlang fand in den oberen Räumen des Hauses auch Deutschunterricht für Aussiedler statt. So kam es, dass eine Gruppe von Jugendlichen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland auf das Café aufmerksam wurde. Die 30 jungen Leute waren auf der Suche nach Räumen, in denen sie regelmäßig zusammenkommen konnten, um miteinander zu reden, ihre Freizeit gemeinsam zu verbringen, Feste zu feiern. Leicht war es offenbar nicht, die Betreiber des Jugendcafés davon zu überzeugen, dass russlanddeutsche Jugendliche auch nicht anders sind als andere junge Leute, dass ihre Zusammenkünfte nicht in Schlägerei und Alkoholexzessen enden müssen.
Anfangs herrschte ein ziemliches Misstrauen, erzählt Albina Zizer, damals 23 Jahre alt und erst wenige Monate in Deutschland. Seither hat sie kaum ein Treffen in der "Wille" verpasst, obwohl sie über eine Stunde entfernt im Stadtteil Spandau wohnt.
Schließlich erhielt die Gruppe die Zusage, den Freitagabend in geschlossener Runde in der "Wille" zu verbringen. Man vereinbarte eine kleine Monatsmiete, und das Café wurde binnen kurzem zum Treffpunkt von rund 40 jungen Leuten aus russlanddeutschen Familien im Alter zwischen 15 und 25 Jahren. Als aufwändig und schwierig erwies sich bald, jede Zusammenkunft so gut vorzubereiten, dass sie für alle Teilnehmer attraktiv und spannend blieb. Albina Zizer, die gemeinsam mit anderen die Initiative zu den Treffen ergriffen hatte, regte daher an, Musikabende zu veranstalten. Und Rainer Hennekes hatte die Idee, Musikgruppen - Bands - im Café auftreten zu lassen. Der Religionspädagoge ist Mitarbeiter der Organisation "Wille". Zwar sei es ein Unglück gewesen, sagt er, dass das Café einmal ausgebrannt sei, immerhin habe das jedoch Gelegenheit geboten, beim Wiederaufbau eine Bühne einzurichten, wo russlanddeutsche Bands mit exotisch klingenden Namen wie "Memories", "Flying Octopus", "Scavenger" auftreten und wo die Punk-Rock-Sängerin Julia Grauberger erste Erfolge feierte.
Musik verbindet - und bald wurde aus der geschlossenen russlanddeutschen Veranstaltung ein offener Treff, zu dem junge Türken und Araber und Berliner aller Hautfarben kommen. Manche stammen aus Kreuzberg, die meisten aber nehmen lange Anfahrten in Kauf, um am Freitagabend zur "Clubdisco" im Café zu sein. Die Bezeichnung trifft nach Meinung von Albina Zizer allerdings nicht ganz zu. Vielmehr ist das Café freitags zugleich Informationsbörse und Beratungszentrum. Jugendliche, die in der Schule oder am Ausbildungsplatz, in der Familie oder im Umgang mit Gleichaltrigen kleinere oder auch größere Probleme haben, erhalten hier zuweilen einen guten Rat oder einen Hinweis, wo man sich Hilfe holen kann.
Und auch Rainer Hennekes ist froh, dass die Initiative der russlanddeutschen Jugendlichen zum festen Programmteil des Treffpunkts geworden ist. Er ist sogar der Meinung, dass "die Wille das einzige Café seiner Art" weit und breit ist, wo junge Leute unterschiedlicher Herkunft konfliktfrei zusammentreffen. Und Albina Zizer fügt hinzu, der Erfolg des Treffpunkts liege vor allem darin begründet, dass Jugendliche ohne Anleitung durch Behörden und Sozialarbeiter selbst die Initiative ergriffen und das Projekt entwickelt haben. Knapp zwei Drittel der rund 150 jungen Leute, die freitags ins Café kommen, stammen aus der ehemaligen Sowjetunion.
Dabei war anfangs niemand sicher, dass das multikulturelle Experiment glücken würde. Zur Vorsicht hatte man erst einmal Mitgliedskarten ausgegeben, um sicher zu sein, dass nur Jugendliche ins Café kamen, die nicht durch rüpelhaftes Benehmen auffielen. Zwar gibt es bei den Disco-Abenden auch Alkohol, aber mitgebracht werden dürfen alkoholische Getränke nicht. Drogen sind verpönt - ebenso wie russische Musik. Albina Zizer erklärt das damit, dass manche Texte und manche Titel russischer Discomusik Jugendliche ins Café ziehen könnte, auf die man lieber verzichten möchte.
Auch für sie ist der Freitagabend zu einem wichtigen Fixpunkt in ihrem Alltag geworden. Als sie Mitte der 1990er Jahre nach Deutschland aussiedelte, hatte sie gerade ihr Studium der Germanistik an der Universität von Barnaul beendet. In Podsosnowo, ihrem Heimatort im Deutschen Nationalen Rayon Halbstadt, hatte sie von Kind an deutsch gesprochen, und als Studentin in Barnaul entschloss sie sich, auch ohne Eltern und Geschwister nach Deutschland auszureisen. Dass ihr Universitätsabschluss in Deutschland nicht anerkannt würde, wusste sie. Inzwischen hat sie in Berlin ein Pädagogikstudium absolviert und beschäftigt sich mit Psychologie, um demnächst mit drogenabhängigen russlanddeutschen Jugendliche zu arbeiten.
Konflikte mussten in der Anfangszeit durchaus häufiger bewältigt werden. Einerseits wollte man einen für alle offenen Treff, andererseits erforderte die Fürsorgepflicht der Betreiber, dass junge Leute sich ungefährdet in den Räumen der "Wille" aufhalten konnten. Das erforderte zuweilen Fingerspitzengefühl, sagt Albina Zizer; dann nämlich, wenn es darum ging, aufsässigen und streitsüchtigen Jugendlichen klar zu machen, dass das Café kein Ort für Auseinandersetzungen ist.
Das Konzept ging auf: Inzwischen wirft die Clubdisco sogar Gewinn ab, so dass die Musiker eine Gage erhalten können und hin und wieder Geld übrig bleibt, mit dem die technische Ausstattung verbessert wird. 19 Uhr ist Einlass - 23 Uhr schließt das Café, dann haben die meisten noch einen langen Heimweg vor sich.
(Ulrich Stewen, Berlin)
"Wir sind doch von der Erde geboren", sagt Viktor und blickt aus der sechsten Etage seiner Zweizimmerwohnung auf einen zementierten Innenhof, wo vier farbige Müllcontainer aufgereiht stehen. Anna und er leben inzwischen in Berlin - in einem Stadtteil namens Marzahn, der viel grauen Beton und wenig grüne Wiesen bietet. "Es war mir immer eine so große Freude, wenn die ersten Pflanzen kamen", sinniert Anna und erklärt, dass die jungen Setzlinge noch vor Ende der Kältezeit im geheizten Haus gezogen wurden, weil sie später nur wenige Wochen Zeit hatten, sich zu entwickeln, die Tomaten oft noch nach der Ernte reifen mussten, weil der Winter schon wieder vor der Tür stand. Wenn Anna von ihrem Garten in Jawlinka spricht, scheinen ihre Rückenschmerzen verflogen und die Trauer, die sie zuweilen befällt, für den Moment vergessen. Würden Anna und Viktor Huck nicht in Berlin sondern in Güstrow leben, wäre ihr sehnlichster Wunsch womöglich längst in Erfüllung gegangen.
Die Kleinstadt Güstrow zählt rund 35.000 Einwohner und liegt östlich der Landeshauptstadt Schwerin - fast in der Mitte von Mecklenburg-Vorpommern. In der ehemaligen Residenzstadt hat der Bildhauer Ernst Barlach viele Jahre seines Lebens und seiner Schaffenszeit verbracht, zu DDR-Zeiten hat die Kleinstadt in der mecklenburgischen Seenlandschaft Nahrungsmittel industriell produziert. Rund hundert Familien aus Russland und Kasachstan sind in den vergangenen Jahren nach Güstrow gezogen. Stadt und Landkreis bieten nicht gerade Arbeitsplätze in Fülle, allgemein ist die Arbeitslosigkeit hoch in dem Bundesland, und so sind auch viele russlanddeutsche Familien auf staatliche Hilfe angewiesen.
Der katholische Wohlfahrtsverband Caritas, der vor über hundert Jahren gegründet wurde und christliche Sozialarbeit leistet, hat ein Projekt ins Leben gerufen, von dem auch eine Reihe russlanddeutscher Familien in Güstrow profitieren. Der Landesverband Mecklenburg-Vorpommern hat verlassene und teils bereits verwilderte Kleingartensiedlungen übernommen und einzelne Parzellen an bedürftige Familien gegeben. In den achtziger Jahren waren in vielen Städten der damaligen DDR Kleingartenanlagen errichtet worden, in denen die Menschen ihre Freizeit verbrachten. So begehrt die Gärten damals bei der Bevölkerung waren, so schnell verebbte das Interesse nach der Wende, und manche Gärten verfielen. Niemand war darüber glücklich, am wenigsten jene Kleingärtner, die an ihren Parzellen und an ihrem der Gemeinschaft festhalten wollten.
Da traf es sich gut, dass sich Mitarbeiter der Caritas Gedanken darüber gemacht hatten, dass Aussiedler besonders häufig aus ländlichen Gebieten Russlands und Kasachstans kommen, Landarbeit ihr Leben bestimmt hat und sie diese Tätigkeiten in Deutschland missen würden, besonders wenn sie jetzt in Städten lebten. Als das Projekt 1996 in Schwerin begann, erhielt es den Namen CARIland. Die Mitarbeiter stießen bei den Kleingartenvereinen auf großes Entgegenkommen, da man Interesse daran hatte, dass das Land bald wieder verpachtet und bearbeitet würde. Im Jahr darauf wurde CARIland in der Stadt Neubrandenburg gestartet und schließlich 1999 in Güstrow.
"So ein Garten ist eine Aufgabe, kann dem Leben wieder Sinn und Inhalt geben und steigert damit das Selbstgefühl", sagt die Sozialarbeiterin Gisela Büsch über ihre Erfahrungen mit dem Projekt. Caritas pachtet das Land und erwirbt zudem die Hütte oder das Häuschen auf dem kleinen Grundstück. Zu den Kosten von knapp 1.500 Euro kommen dann noch die Betriebskosten für Pacht, Strom und Wasser von rund 300 Euro pro Jahr. Die Caritas, die ihre Arbeit zu mehr als der Hälfte aus Spenden betreibt, hat für diese Kosten Paten gesucht und gefunden; Personen mit einem besseren Einkommen, die einen Teil des Jahresbetrages übernehmen und dafür zu gemeinsamen Treffen, zu Grillabenden und Veranstaltungen der Kleingärtner eingeladen werden.
In Güstrow hat Alexander Warkentin eine kleine Parzelle bekommen mit einer Laube darauf, die schon ein wenig baufällig war, als er und seine Frau Lubow den Garten übernahmen. Im Frühjahr, Sommer, bis in den Herbst hinein vergeht kaum ein Tag, an dem die Beiden nicht zumindest einmal nach dem Rechten gesehen haben, meistens verbringen sie viel Zeit hier, oft den ganzen Tag, denn unter den anderen Kleingärtnern haben sie freundliche Menschen gefunden, die manchen Ratschlag gaben und für manchen Ratschlag dankbar waren. Verwunderlich fanden die Nachbarn anfangs schon, dass Alexander und Lubow ausschließlich Gemüse und Obst anbauten. Alexander meint, das Aroma seiner Tomaten und Gurken erinnere ihn immer wieder an ´daheim`, an Kasachstan - ein Geschmack, den man von keinem Supermarkt-Gemüse erwartet könne.
Auch wenn man Lubow und Alexander nicht näher kennt, hat man dennoch den Eindruck, dass das kleine Stückchen Land ihnen in einer vielfach noch fremden Umwelt Geborgenheit gibt, Rückhalt und Sicherheit. Caritas will mit dem Projekt CARIland vor allem erreichen, dass Aussiedler sich nicht von ihrer Umgebung isolieren, sondern sich in Gemeinschaften - etwa Kleingartenvereine - begeben. Der Nutzen von Gartenarbeit bedarf keiner weiteren Erläuterung, und viele Aussiedler, die wegen der Arbeitslosigkeit keinen geregelten Tagesverlauf haben, sehen sich so veranlasst, den Tag und damit womöglich ihren Alltag neu zu ordnen. Nicht zuletzt vermittelt gärtnerische Arbeit auch die Erfahrung von Erfolg, wenn etwa aus einem Setzling eine ausgewachsene Pflanze geworden ist, wenn eine kleine Ernte die Arbeit lohnt. (Ulrich Stewen, Berlin)
Als der Richter Andreij für drei Jahre ins Gefängnis schickte, hatte er in seiner Urteilsbegründung von der „oftmals fatalen Situation junger Aussiedler“ in der Kleinstadt gesprochen. Zwei Tankstellen hatte Andreij mit einem Komplizen überfallen und einen Taxifahrer, der sich zur Wehr setzte und von einem der beiden Täter verletzt wurde. Das Motiv war jedes Mal dasselbe: Geld – Geld für Drogen, denn Andreij und sein Freund waren abhängig von Drogen. In der Sprache der Justiz heißt das Beschaffungskriminalität. Manchmal können die Täter vor Gericht mit mildernden Umständen rechnen, weil sie das Verbrechen wohl nicht begangen hätten, wenn sie nicht selber auch Opfer wären – Gefangene ihrer Krankheit, die Drogenabhängigkeit heißt. Andreij hat keine mildernden Umstände erhalten.
Das Gefängnis von Adelsheim nahe Heilbronn ist eine der größten Jugendstrafanstalten des Landes. Viele Mitgefangene von Andreij sprachen Russisch, denn ein Gutteil der Insassen waren junge Aussiedler. Anfangs gab es nur eine Handvoll „Russkis“ in Adelsheim – so nennen die anderen Gefangenen die für ihren Zusammenhalt berüchtigten Jugendlichen aus Russland und Kasachstan. Wegen Raub, Erpressung und Gewaltdelikten haben sie vor Gericht gestanden – und wegen Drogenvergehens. In der Region der baden-württembergischen Kleinstadt hat die Zahl der Drogenverbrechen jugendlicher Aussiedler von einem Jahr aufs andere um über 50 Prozent zugenommen. An anderen Brennpunkten ist es ähnlich.
Ein Verantwortlicher der Kommune sagte einmal: „Hier tickt eine soziale Zeitbombe!“ Damit meinte er auch die bedrängte Lage junger Leute, die häufig ohne eine Perspektive nach Deutschland gekommen sind und hier keinen Mut zu einem Neubeginn geschöpft haben. Im Gegenteil: Manche Jugendlichen gerieten erst in Deutschland in eine tiefe Krise – ein anderes Land, eine andere Sprache und Menschen, die ihnen vielfach mit einer Mischung aus Fürsorge und Ablehnung begegnen. Viele Jugendliche reagieren darauf, indem sie trotzig alles Neue ablehnen und - in der trügerischen Hoffnung, sich nicht zu verlieren - alles Alte bewahren: die Sprache, Verhaltensweisen, die zuweilen in Deutschland auf Missfallen stoßen, Freunde aus der alten Heimat, die nicht so herausfordernd sind wie die neue Umgebung.
Der Zwiespalt: Fast niemand möchte zurückkehren nach Russland oder Kasachstan und das frühere Leben fortsetzen – aber die Fremdheit dieses Landes Deutschland, das die Großeltern zuweilen als „Urheimat“ bezeichnet haben, macht es auch nicht leicht, an dem Leben dort teilzunehmen. Ausgerechnet in einem Alter verlassen viele junge Leute gemeinsam mit den Eltern ihre alte Heimat, in dem sie gerade beginnen, eine eigene Persönlichkeit zu bilden. Sozialwissenschaftler sprechen von „doppelt teilsozialisiert“: Die Eingliederung in die frühere Heimatgesellschaft ist unterbrochen worden, als sie gerade dabei waren, ihren Platz zu suchen. Die neue Gesellschaft kann noch keinen Halt bieten. Ihr Lebensweg hat eine tiefe Störung erfahren.
Und die Quellen für Konflikte werden auch nicht gerade weniger. Man hat festgestellt, dass in gemischtnationalen Aussiedler-Familien häufiger Schwierigkeiten auftreten als in anderen, weil die Erwartungen der Partner womöglich weiter auseinander liegen als ursprünglich geglaubt. Das überkommene Familiengefüge erhält Brüche, weil durch die Ausreise nach Deutschland ein anderer Partner eine stärkere Position erhält, als früher der Fall war. Der russlanddeutsche Elternteil empfindet der neuen Gesellschaft gegenüber womöglich eine stärkere Verpflichtung als der Elternteil anderer Nationalität. Für die Kinder bedeutet das eine starke Irritation, weil sie um den Bestand der Familie fürchten – häufig die einzige Sicherheit, die sie aus der alten Heimat herübergerettet haben.
In Deutschland ist es leicht, an Drogen zu gelangen – auch wenn es illegal ist, Drogen in größeren Mengen zu besitzen oder damit zu handeln. Zahlreiche Stoffe sind auf dem Markt, darunter einige, die als Einstiegsdrogen bezeichnet werden. Sie machen nicht krank, bereiten jedoch den Boden, stärkere Mittel zu versuchen und schließlich der Droge zu verfallen. In vielen Fällen abhängiger jugendlicher Aussiedler wurde festgestellt, dass sie bereits in der früheren Heimat mit Drogen in Kontakt gekommen waren. Kriminelle Händler sprechen häufig Minderjährige an, Abnehmer zu finden und den Stoff an Gleichaltrige und andere zu verkaufen. Sie selbst bleiben im Hintergrund. Jugendliche, die noch nicht 18 Jahre alt und volljährig sind, können vor Gericht mit milderen Strafen rechnen.
Wissenschaftler haben sich mit dem Problem drogengefährdeter Jugendlicher unter den Aussiedlern beschäftigt. Dabei hat sich herausgestellt, dass das Risiko besonders für jene hoch ist, die keine Motivation haben, ihr Leben zu gestalten und die Angebote der neuen Gesellschaft zu erkennen und wahrzunehmen. Bei Drogen verhält es sich ähnlich wie mit psychischen Erkrankungen, an denen Einwanderer aus Russland oder Kasachstan zuweilen leiden: je besser die Kenntnisse der deutschen Sprache, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, den neuen Alltag zu meistern und Perspektiven zu entwickeln. Studien legen die Vermutung nahe, dass gute Deutschkenntnisse sich auf den Gesundheitszustand stabilisierend auswirken. Junge Leute, die der Droge verfallen sind, sprechen häufig nicht Deutsch.
Natürlich ist das Problem vielschichtiger und nicht allein auf die Sprachfertigkeit zu beschränken. Behörden und Verantwortliche in der Jugendarbeit haben darauf reagiert und jungen Aussiedlern verstärkt Angebote gemacht, die über die Sprachförderung hinausgehen. (Ulrich Stewen, Berlin)
Ein warmer Sonntagmorgen. In Meckenheim, einer Kleinstadt wenige Kilometer südwestlich von Bonn, sitzen wohl die meisten der 25.000 Einwohner gemütlich zu Hause beim Frühstück oder planen den Sonntagsausflug. Auf den Straßen ist um diese Zeit noch kaum ein Mensch zu sehen. Äußerst lebhaft geht es dagegen auf dem Vorplatz der Friedenskirche zu, einer von drei evangelischen Kirchen des Ortes. Noch während aus dem Inneren des Gebäudes der Abschlussgesang ertönt, kommen die ersten der über 400 Gottesdienstbesucher durch das Kirchenportal nach draußen und versammeln sich auf dem Vorplatz. Nur selten sind die Sonntagsgottesdienste der Friedenskirche so gut besucht wie heute. Doch dafür gibt es einen guten Grund. Jugendliche aus Spätaussiedlerfamilien gegen zur Konfirmation.
Zahlreiche Familienmitglieder und Verwandte sind gekommen, um mit den 24 Konfirmanden zu feiern. Und auch die Pastorin Gisela Martin wird diesen Tag wohl so schnell nicht vergessen. Sichtlich ergriffen verlässt sie als Letzte die Kirche. Schon oft hat sie in ihrer Amtszeit junge Mädchen und Jungen konfirmiert. Doch selten hat sie den Einsegnungs - Gottesdienst, der als Abschluss der Konfirmationszeit gilt, so fröhlich und ausgelassen erlebt. "Vielleicht wird hieran deutlich, welche Impulse Aussiedlerfamilien unserem Kirchenalltag in Deutschland geben könnten", bemerkt sie. Und besonders freut sie, dass an diesem Sonntag alteingesessene Meckenheimer und Aussiedlerfamilien gemeinsam feiern. "Denn im Kirchenalltag und im religiösen Leben gibt es doch so manche Dinge, die beide Bevölkerungsgruppen unterscheidet", erläutert die engagierte Pastorin.
So sind vor allem viele der älteren Aussiedler froh, in Deutschland ihre Religion frei ausüben zu können. Doch die Art ihrer Frömmigkeit ist vielen Menschen hierzulande nicht mehr geläufig und fremd. Gisela Martin: "Andererseits können ältere Aussiedler häufig mit meinen Sonntagspredigten kaum etwas anfangen, weil diese nicht immer so emotional ihre frommen Empfindungen und Gefühle ansprechen." Einige Versuche in den vergangenen Jahren, Aussiedler und Alteingesessene bei sogenannten Altennachmittagen zusammenzubringen, scheiterten denn auch nach kurzer Zeit. Heute treffen sich die beiden Gruppen getrennt - die alten Meckenheimer zum gemütlichen Singen und Erzählen und die Älteren unter den Aussiedlern zum gemeinsamen Bibellesen. Um so mehr freut sich die Pastorin über die gelungene Konfirmationsfeier, die viele Gemeindemitglieder enger zusammengeführt habe.
Auch Waldemar Dorfner und seine Schwester Nina (Namen von der Redaktion geändert) haben an der Konfirmationsfeier teilgenommen. Beide sind mit ihren Eltern und der Großmutter vor Jahren aus Kasachstan nach Meckenheim gekommen. "Vor einem Jahr habe ich noch überhaupt nicht gewusst, was Konfirmation eigentlich heißt", erzählt Waldemar. "In unserem Dorf in Kasachstan gab es so etwas jedenfalls nicht. Nur unsere Großmutter konnte sich an Konfirmationsfeiern von früher erinnern." Stolz zeigt er ein altes, vergilbtes Gesangbuch, das die Großmutter ihm zum Feiertag geschenkt hat. Einige Lieder tragen die Überschrift "Zur Konfirmation".
Erfahren hat Waldemar Dorfner von der Initiative der evangelischen Pastorin über den Besuchsdienst der Friedenskirche. Der Besuchsdienst ist Teil einer ganzen Reihe von Diensten und Hilfeleistungen, die die Kirchengemeinde seit mehreren Jahren für Aussiedler anbietet. Zu diesem Zweck haben sich einige Gemeindemitglieder in der "Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Aussiedler" zusammengeschlossen. Sie betreuen Kinder und Jugendliche bei Schulaufgaben, unterstützen alte Menschen oder helfen bei der Beschaffung von Möbeln - das Spektrum der ehrenamtlichen Dienstleistungen ist weit gefächert. Im Rahmen des Besuchsdienstes gehen Gemeindemitglieder regelmäßig zu den Familien der Aussiedler und kümmern sich um Sorgen und Nöte. "Besonders wichtig sind diese Besuche, wenn die Familien gerade in Deutschland angekommen sind", sagt Lothar Martin, der Ehemann der Pastorin. "Aber wir halten den Kontakt natürlich auch in der Folgezeit, denn egal ob Wohnungsfragen, Sprachschwierigkeiten oder Ärger in der Schule - es gibt immer wieder Alltagsprobleme, bei denen wir helfen können."
Ebenso wie Nina und Waldemar Dorfner hatte auch Wladimir Hirsch über den Besuchsdienst von der geplanten Konfirmation erfahren. Da ausschließlich jugendliche Aussiedler mitmachen sollten, hat er sich sofort dafür interessiert. "Es ist alles leichter, wenn nur Jugendliche aus Kasachstan oder Russland dabei sind", bekennt er zögernd. Eine Erfahrung, die auch die Pastorin bestätigt. Vor ein paar Jahren habe sie einmal eine Konfirmationsgruppe gehabt, an der auch zwei junge Aussiedler teilgenommen hätten. Doch leider seien sie von der restlichen Gruppe gemieden worden. "Natürlich steht hinter all unseren Bemühungen das Ziel, die Aussiedler in unsere Gesellschaft zu integrieren. Aber in diesem halben Jahr Konfirmationszeit war mir wichtiger, unter den Aussiedlerjugendlichen ein Gruppengefühl zu erzeugen und sie lieber als Gruppe zu stärken, als sie zwanghaft mit anderen Jugendlichen zusammenzubringen." Ehemann Lothar nickt zustimmend.
Über den Begriff Integration und das, was man damit erreichen wolle, müsse in Deutschland und natürlich ebenso in der Kirche neu nachgedacht werden. "Aussiedlerintegration im herkömmlichen Sinn findet heute vielleicht bestenfalls im Kindergarten statt, denn dort wachsen alle gemeinsam auf. Wir wollen auch nicht verhindern, dass sich Aussiedler eher in der eigenen Gruppe wohlfühlen und engagieren." Nicht die vollkommene Eingliederung der Aussiedler in deutsche Gruppen, sondern die Akzeptanz als Gruppe in Deutschland müsse erreicht werden. Und dazu könne auch die Kirche beträchtlich beitragen. "Trotz aller Eigenständigkeit wollen die Aussiedler natürlich doch auch immer wieder unterstreichen, dass sie Deutsche sind", erzählt Gisela Martin. Und schmunzelnd fügt sie hinzu: "Ich weiß nicht, ob die Teilnahme an der Konfirmation so groß gewesen wäre, wenn die Aussiedlerfamilien nicht erfahren hätten, dass die Konfirmation zum guten deutschen Alltag gehört." (Maternus Thöne, Bonn)